Es ist ein sonniger Montag im Oktober. Ein blauer Himmel und einige weiße Wolken sind unsere Begleiter, als wir über die Reeperbahn in Richtung Schmidt Theater schlendern. Uns begegnen vereinzelte Touristengrüppchen, die im „Schutz“ des Tageslichts der Verruchtheit der Reeperbahn auf der Spur zu sein scheinen, bisweilen verstohlene Blicke in die Schaufenster der Erotik-Boutiquen werfen, die berühmte Davidwache beäugen und sich, ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, darüber wundern, dass keine Dame des horizontalen Gewerbes auf der Straße anzutreffen ist. Zwar ist Verkehr auf der Reeperbahn auch tagsüber ein Thema, das ist aber den vielen vorbeifahrenden Autos geschuldet. Am Schmidt Theater angekommen, betreten wir das Foyer und halten nach Tessa Aust und Corny Littmann Ausschau. Anlässlich des 15-jährigen Jubiläums des Dauerbrenners „Heiße Ecke“ im September dieses Jahres wollten wir die beiden Chefs der Theater-Institution auf der Reeperbahn einmal treffen und ein wenig über Theater, die Reeperbahn und Persönliches plaudern.
Wir werden von den beiden freundlich begrüßt und nehmen mit Mineralwasser und Milchkaffee Platz. Gut gelaunt rührt Littmann seinen Milchkaffee um. Er schmunzelt bei der Frage, ob er etwas gegen Pinneberg hätte, schließlich sorgen ausgerechnet drei Pinneberger in der „Heißen Ecke“ für die größten Lacher. „Die drei Pinneberger, die in der „Heißen Ecke“ ihren Junggesellenabschied feiern, sind ja durchaus ein Abbild der Realität auf der Reeperbahn. Wir haben diese Junggesellenabschiede hier. Bei 20 Millionen Menschen, die jährlich hierher strömen, gibt es aber die unterschiedlichsten Besucher. Sowohl Junggesellenabschiede als auch Theatergänger, Clubbesucher. Durch diese Vielfalt lebt die Reeperbahn. Dass im Stück die Feiernden ausgerechnet aus Pinneberg kommen, hängt sicherlich auch ein wenig mit dem historisch gewachsenen Verhältnis zwischen den Hamburgern und besagter Stadt zusammen.“
Auch Tessa Aust, die von ihrem Vater Norbert Aust, die (Mit-)Geschäftsführung übernommen hat, sieht dies so. „Die Vielfalt auf der Reeperbahn ist ausgesprochen positiv. Wir haben hier ein breites Entertainmentangebot mit unterschiedlichsten Theatern, Clubs und Bars, wo sich die unterschiedlichsten Menschen begegnen, und die durchaus gut miteinander auskommen.“ Deswegen habe ihrer Meinung nach auch jeder Unterhaltungsbetrieb seine Berechtigung. Es könne gar nicht genug davon geben. „Wissen Sie, Anfang der 20er, 30er Jahre des 20. Jahrhunderts gab es etwas mehr als 60 unterschiedliche Häuser auf der Reeperbahn: Operettenhäuser, Theater etc. Diese Anzahl haben wir heute bei weitem nicht“, ergänzt Littmann. „Was ich allerdings vermisse, ist eine Kinokultur. Als ich vor 40 Jahren hierherkam, gab es noch eine gewachsene Cineastenszene. Die fehlt mir mittlerweile.“
Man merkt, dass die beiden sich verstehen. Und so beantwortet sich die Frage, wie sie miteinander auskommen fast von selbst. „Wir bekommen das sehr gut miteinander hin. Ich freue mich, dass mit Tessa eine junge, ausgesprochen motivierte Kollegin auch in der Geschäftsleitung tätig ist. Das tut dem Unternehmen gut“, schwärmt Littmann von der gemeinsamen Arbeit. „Es war eine sehr bewusste und persönliche Entscheidung, das, was mein Vater mit aufgebaut hat, weiter fortzuführen“, ergänzt die studierte Sozialökonomin, die auch einen Abschluss in Internationalem Management besitzt. „Natürlich ist das eine große Verantwortung, aber man kann nicht davon sprechen, dass das Erbe schwer wiegt. Schließlich macht die Arbeit unglaublich Spaß, und wir arbeiten gut zusammen.“
Derweil ist es im Foyer etwas wuselig geworden. Einige Mitarbeiter scheinen mit Vorbereitungen für den Abend beschäftigt zu sein. 15 Jahre „Heiße Ecke“, das ist eine lange Zeit, denken wir. Seit der Uraufführung haben über 2 Millionen Zuschauer das erfolgreichste deutschsprachige Musical gesehen. Eine Wahnsinnszahl. Wie stolz macht so ein Erfolg, wollen wir wissen. „Ich glaube, wir sind mehr überrascht als stolz. Ursprünglich war das Musical nur für einige Monate geplant. Dass es so ein Erfolg wird, damit hat keiner gerechnet. Der Erfolg resultiert aus meiner Sicht zum großen Teil aus der konstant hohen Qualität der Leistung, die die Schauspielerinnen und Schauspieler liefern, und daraus, dass das richtige Stück zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort gespielt wurde. Es ist zeitgemäßes Volkstheater“, fasst Littmann zusammen.
Zwischenzeitlich hat der Milchschaum den Boden unseres Kaffeebechers erreicht. Vor dem Theater auf der Straße gehen Flanierwillige auf und ab, bleiben stehen, werfen einen Blick durch die großen Fenster ins Innere des Theaters. Hat man bei so vielen Menschen, denen man permanent auf der Reeperbahn begegnet, zwischendurch auch einmal die Schnauze voll vom Kiez? Gibt es Lieblingsplätze in Hamburg? Aust und Littmann lachen. „Da ich nicht auf der Reeperbahn wohne, muss ich nicht flüchten“, antwortet Aust, „und wenn ich Ruhe brauche, bin ich sehr gern im Wilhelmsburger Inselpark.“ „Ich verreise gern und viel, bin im Millerntor-Stadion, auch gern mal am Wasser, egal ob Alster oder Elbe“, verrät Littmann und scherzt, „in der Nähe der Müllverbrennungsanlage in Stellingen bin ich eher selten.“
Die Zeit rennt, und bevor wir uns verabschieden, möchten wir noch wissen, was sich Aust und Littmann für die Zukunft der Reeperbahn erhoffen. „Ich wünsche mir Bewegung und Veränderung. Und ich bin gespannt, wie sich die verschiedenen Kulturformen entwickeln“, bringt es Littmann auf den Punkt. „Ein gutes Miteinander zwischen Anwohnern und Betreibern, und dass die Reeperbahn vielseitig bleibt“, ergänzt Aust Littmanns Gedanken. Da war es wieder: Es lebe die Vielfalt.