Von Petra Bassen
Den Alltag so gar nicht alltäglich zu präsentieren, uns einen Spiegel vorhalten und gleichzeitig eine Brücke über vier Jahrhunderte zu schlagen: Dieses Kunststück gelingt Kuratorin Dr. Sandra Pisot mit ihrer Ausstellung Klasse Gesellschaft. Alltag im Blick niederländischer Meister. Mit Lars Eidinger und Stefan Marx, die ab 26. November in der Hamburger Kunsthalle zu sehen ist.
Dafür stellt sie die Alltagsszenen – von feinsinnig bis derb – der niederländischen und flämischen Genremalerei aus dem 17. Jahrhundert den Fotografien und Videoarbeiten von Lars Eidinger (*1976) sowie den Schriftbildern des Künstlers Stefan Marx (*1979) gegenüber und lässt sie miteinander in einen Dialog treten.
Diese ungewöhnliche Zusammenschau zeigt, dass der Blick zurück tatsächlich ein guter Spiegel der Gegenwart sein kann. Genießen Sie die neuen An- und Einsichten, die auch zum Nachdenken über unsere eigene Lebenswirklichkeit anregen.
Denn die Alltagsszenen sind immer auch Abbilder der jeweiligen Gesellschaft. Vielleicht ist das eine mögliche Deutung des Schriftbildes I’ll be your mirror (Ich werde dein Spiegel sein) von Stefan Marx, das in der Ausstellung gezeigt wird? Kommen Sie vorbei und entscheiden Sie selbst.
In jedem Fall ermöglichen die Wechselwirkungen einen neuen Blick auf die Werke der Alten Meister und werden vielen, vor allem auch jüngeren Besucher*innen den Zugang zu diesen wunderbaren Kunstwerken erleichtern. Durchbricht die Gegenüberstellung von Alten Meistern und zeitgenössischer Kunst doch tradierte Sehmuster und offenbart gleichermaßen überraschende wie faszinierende Gemeinsamkeiten der Themen und Motive.
Ausgangspunkt der Ausstellung ist der hochkarätige Bestand der Hamburger Kunsthalle an Gemälden niederländischer und flämischer Meister des 17. Jahrhunderts. Dieser bildet den Schwerpunkt der Sammlung Alte Meister, die Pisot verantwortet. Ergänzt werden die eigenen Werke durch hochkarätige Leihgaben, darunter auch Hauptwerke anderer Museen. Mit rund 200 Werken – Gemälden, Zeichnungen, Druckgraphik, Fotografien und Videokunst – widmet sich die Ausstellung damit sehr umfassend einem Kapitel einer der wohl facettenreichsten Epochen der europäischen Kunstgeschichte.
I’ll be your mirror ©Stefan Marx
Die Genremalerei wagte damals etwas völlig Neues mit der realitätsnahen Darstellung des alltäglichen Lebens in seiner gesamten Bandbreite. Die eleganten, atmosphärischen Interieurs der Delfter Feinmaler wie Pieter de Hooch oder auch die überspitzten, ironischen Darstellungen des teils zügellosen Treibens der Landbevölkerung von Adriaen Brouwer oder David Teniers waren damals ausgesprochen beliebt. „Auch heute sind die Genrebilder bei den Besucher*innen sehr beliebt. Ohne Zweifel zählt zum Beispiel Der Liebesbote von Pieter de Hooch zu den Highlights der Hamburger Kunsthalle“, sagt Pisot. Die Ausstellung präsentiert allein 20 herausragende Gemälde von de Hooch. Die Begeisterung Pisots für die Alten Meister ist förmlich ansteckend. Das werden die Teilnehmer*innen ihrer Kuratorin-Führungen, die sie auch für die Ausstellung anbietet, ganz sicher bestätigen können.
„Lars Eidingers feinsinnige fotografische Momentaufnahmen, die teils vergnüglich, teils schockierend, skurril oder auch poetisch sind, kontrastieren wunderbar mit den inszenierten, teils überzeichneten Alltagsdarstellungen, in denen die Personen eher soziale Rollen verkörpern“, erläutert Pisot. Tatsächlich ist sie vor einigen Jahren auf Instagram auf die fotografischen Arbeiten von Lars Eidinger aufmerksam geworden. Durch seine Theaterarbeiten hat Eidinger eine ganz eigene Affinität zu den Alten Meistern und war auch sofort begeistert von einer Zusammenarbeit im Rahmen der Ausstellung.
Die pointierten, in schwarz-weiß gemalten Schriftbilder von Stefan Marx führen jeweils in die Kapitel der Ausstellung ein. „Stefan Marx verarbeitet, was er sieht und hört, reagiert unmittelbar und bringt so mit seinen humorvollen, zum Nachdenken anregenden Schriftbildern die Alten Meister zum Sprechen“, erklärt Pisot. Daneben gestaltet er ein kleines Booklet zur Ausstellung.
Soziale Gegensätze und Klischees
Ohne Titel, Berlin 2020, C-Print
Dass im Titel auch Klassismus mitschwingt, ist kein Zufall – sind die sozialen Gegensätze in der Gesellschaft doch augenscheinlich. Auch die Klischees sind vergleichbar: So ist es uns heute ebenfalls nicht fremd, uns zu erheben über die Landbevölkerung. Damals wie heute gilt beispielsweise „Bauerntölpel“ als Schimpfwort.
Auch wenn die Genrebilder an sich nicht sozialkritisch sind, weist Jan Havicksz Steen, einer der bedeutendsten Vertreter der niederländischen Genremalerei, in seinem Gemälde Der Siruplecker auf die Armut der Künstler hin. Denn in der humoristisch-fröhlich anmutenden Szene sind seine eigenen Kinder dargestellt – in zerrissenen Lumpen gekleidet. Ein Thema, das heute in der Pandemie wieder hochaktuell ist.
Aber auch die Einsamkeit der Menschen kommt in den Arbeiten Eidingers zum Ausdruck, ein Verlorensein, das er mit dem Autistic Disco umschreibt. Aber das soll uns nicht die Laune verderben: Falls es die Pandemie erlaubt, wird er in der Kunsthalle, wie bereits für das vergangene Jahr geplant, als DJ Musik in einer Autistic Disco auflegen!