Die Übernahme Afghanistans durch die Taliban hat ein Thema wieder in die Timelines und auf die Titelseiten katapultiert: Migration. Während Deutschland heftig darüber diskutiert, ob und wie viele Afghanen man aufnehmen kann und sollte, wird eins oft vergessen: Migration ist beileibe nicht nur eine Belastung, sondern auch eine Bereicherung. Dafür ist Hamburg ein gutes Beispiel.
Lebenswege in der BallinStadt
Dass aber einige Menschen Vorbehalte gegen Migration haben, liegt vielleicht auch ein Stück weit daran, dass sie über dieses Thema zu wenig wissen. Da hilft ein Perspektivwechsel – zu deutschen Migranten. Im Auswanderermuseum BallinStadt kann man deren Lebenswege nachvollziehen. Museumsdirektor Volker Reimers ist sich sicher, dass ein Besuch die Sicht auf Migration verändert: „Die in der BallinStadt gewählte Darstellung, dass es sich bei Migration um Menschen handelt, die individuell und vielschichtig sind und es sich nicht nur um Zahlen und Fakten handelt, ist ein Garant für eine aufmerksame Betrachtung der Inhalte. Aber die klare Gegenüberstellung von Inhalten, Briefen und Zahlen aus vergangenen Jahrhunderten zur Migration heute und die daraus deutlich gemachten Parallelen, haben Besucherinnen und Besucher sehr aufmerksam gemacht und vielleicht auch von einseitiger Betrachtung abgewandt.“
Perpektivwechsel
Doch eine veränderte Sichtweise hat Reimers selbst auch durchlaufen, wie sich im Interview erinnert: „In der ersten Bewerberphase um die Gestaltung und Realisierung des Projektes in 2004 waren wir uns nicht sicher, ob das Thema Migration einen ausreichend hohen Stellenwert bei möglichen Besucherinnen und Besuchern haben wird, um ein Museum dafür zu errichten. Zudem hatten mein Geschäftspartner, Herr Nitschke und ich, bis dahin nur wenig mit Auswanderung bzw. Auswandernden zu tun gehabt. Zu Beginn solcher Planungsprozesse werden die Inhalte studiert, und bereits nach wenigen Tagen waren wir uns einig: Das ist ein besonderes, gar faszinierendes Thema. Die Vielschichtigkeit der Gründe, die zur Auswanderung führen, die Reise und das Ankommen haben meine Sicht verändert und mich zu einer genaueren Betrachtung von Migrationsthemen gebracht.“
Berührende Schicksale in der BallinStadt
Die Sichtweise von Migration als Thema der Zahlen und Statistiken hin zu Migration als Schicksal von individuellen Menschen hat in der BallinStadt zu berührenden Momenten geführt. „In der Bauphase, es war erst eines der drei Gebäude im Rohbau fertig, wurde ein großes Paket für uns abgebeben. Auf dem Paketzettel stand: To BallinStadt – Hamburg – Germany. Dass die Post es geschafft hat, das Paket aus den USA richtig zuzustellen ist schon erstaunlich, aber das, was im Paket war, hat vieles verändert. Es befand sich ein alter Überseekoffer darin, mit einem Zettel auf dem stand: „Ich bin mit diesem Koffer über die Auswandererhallen ausgewandert, nun soll er in seine Heimat zurückkehren und einen schönen Platz im Museum bekommen.“ Spätestens ab dem Moment wusste ich, es geht um Menschen und ihre persönliche, emotionale Geschichte. Und der Koffer wurde unser Symbol für Aufbruch und Reise. Wir haben mittlerweile über 300 Koffer gesammelt.
Familienzusammenführung im Museum
Eine weitere Geschichte begann kurz nach der Betriebseröffnung. Wir hatten das Digitalisierungsprogramm „Link to your roots“, das die Passagierlisten für die Familienforschung digitalisierte und mithilfe ancestry.de im Internet veröffentlicht, in unserem Familienforschungscenter eröffnet. Ein Besucher hat seinen Namen dort eingegeben und nach kurzer Recherche festgestellt, dass sein Name mehrfach zu finden ist. Unsere Mitarbeiter haben ihm bei der weiteren Suche geholfen und so kam es, dass nach Auswanderung eines Vorfahren ein bisher unentdeckter, großer Familienzweig in den USA gefunden wurde. Man nahm Kontakt auf, der US-amerikanische Familienteil kam nach Deutschland und man traf sich zum ersten Mal hier in der BallinStadt – man umarmte sich, weinte und ist sich bis heute sehr verbunden.“
Ausflug in die Geschichte
Eigentlich liegt es auf der Hand: Hamburg als Hafenstadt hatte schon immer mit Menschen aus fremden Ländern zu tun – und es ist anzunehmen, dass auch das maßgeblich zur viel zitierten Toleranz der Hamburger beitrug. Bereits in den Gängevierteln lebten um 1890 zahlreiche Migranten, etliche von ihnen aus Russland und Osteuropa. Sie waren auf dem Weg ins gelobte Land Amerika in der Hansestadt gestrandet.
Ebenfalls migrantisch geprägt war der Stadtteil Grasbrook, quasi gegenüber vom Gängeviertel. Das Viertel auf der ehemaligen Kehrwieder-Wandrahm-Insel war von Einwanderern vor allem aus Portugal und den Niederlanden bevölkert, die hier ab dem 16. Jahrhundert lebten. Ein Jahrhundert später waren die dreistöckigen Fachwerkhäuser, die eben jene Einwanderer errichtet hatten, ganz typisch für Kehrwieder.
Als Holländisch Geschäftssprache war
Vor allem die holländischen Kaufleute drückten Hamburg ihren Stempel auf: 1612 waren 32 von 42 großen Handelshäusern der Stadt unter niederländischer Führung – holländisch wurde sogar zur Amtssprache. Auch Straßennamen wie „Holländische Reihe“ zeugen von der Wichtigkeit der Niederländer für Hamburg. Das Portugiesenviertel in der südlichen Neustadt erinnert ebenfalls an Einwanderer – allerdings ist dieses Viertel geprägt von den Hafenarbeitern, die in den 1970er Jahren nach Hamburg gelangten.
1883 begann in Hamburg ein seinerzeit extrem ehrgeiziges Projekt: der Bau der Speicherstadt. Auch hier gab es etliche Migranten, die am Bau beteiligt waren, ebenso wie Händler aus allen Herren Ländern, die später hier ihre Ware lagerten.
Die vergessenen Migranten aus China
Was heute vielfach in Vergessenheit geraten ist: Auch chinesische Migranten spielten in Hamburg eine große Rolle. Bereits in den 1920er Jahren gab es zwischen Talstraße und Großer Freiheit ein Chinesenviertel. Dort hatten sich nach dem Ersten Weltkrieg einige hundert Chinesen niedergelassen. Die meisten von ihnen waren ehemalige Hafenarbeiter, die hier auf dem Kiez kleine Wäschereien, Restaurants und Läden, die sich meist im Souterrain befanden. Das Chinesenviertel ist überdies ein trauriges Beispiel für Ressentiments gegenüber Einwanderern. Gerüchte über Verbrechen und Opiumhöhlen sorgten dafür, dass die Polizei das Viertel oftmals rassistisch kontrollierte.
Im Dritten Reich wurden die Hamburger Chinesen zunehmend verfolgt: Am 13. Mai 1944 führte die Gestapo schließlich eine „Chinesenaktion“ durch, bei der 130 chinesische Männer festgenommen, misshandelt und monatelang inhaftiert wurden. Das war das Ende des „Chinesenviertels“ auf St. Pauli. Doch ganz verschwunden ist das chinesische Leben aus Hamburg nicht. So wurde in den 1960er Jahren in Hamburg-Eppendorf das chinesische Seemannsheim eröffnet und im Botanischen Garten finden Besucher Entspannung im liebevoll angelegten Chinagarten. Auch das Chinesische Teehaus in der Feldbrunnenstraße erinnert an das Reich der Mitte. Heute ist dort das Restaurant Yu Garden beheimatet. Und nicht zuletzt trägt auch ein maritimes Wahrzeichen Hamburgs einen chinesischen Namen – die „Peking“ nämlich.
Der Tierpark Hagenbeck dagegen bietet mit dem chinesischen Schneeleoparden oder dem Mandschurenkranich einen Blick in Chinas faszinierende Tierwelt. Apropos Hagenbeck: Zoogründer Carl Hagenbeck brachte nicht nur exotische Tiere nach Hamburg, sondern auch andere Ehtnien. Seine sogenannten „Völkerschauen“ mit Nubiern, Inuit, Lappländern oder Beduinen galten Mitte des 19. Jahrhunderts als seltene Möglichkeit für das Bürgertum, einen Blick auf Menschen aus fernen Ländern zu werfen…