Hamburg History: die Gängeviertel

Alexander Oskar Noah malte das Gängeviertel von der Wexstraße aus gesehen. ©SHMH

Wer heute durch das Hamburger Gängeviertel bummelt, das sich rund um den Valentinskamp erstreckt, bekommt an einigen Stellen eine Vorstellung davon, wie es hier früher einmal aussah – in den Slums der reichen Stadt Hamburg. Allerdings ist die Bezeichnung Gängeviertel nur im Plural korrekt. Dazu gehörten nämlich zahlreiche Viertel vom Hafenrand über den Großneumarkt bis zum Gänsemarkt .

Europas größter Slum

Rückblende:  Anfang des 19. Jahrhunderts hat Hamburg eine nahezu magnetische Anziehungskraft auf Arbeiter aus allen Teilen Deutschlands. Der Hafen und die Schifffahrt locken sie in die Stadt. Hier erhoffen sie sich ein besseres Leben. Die Realität allerdings sieht anders aus: Sie leben dicht an dicht in den Hamburger Gängevierteln, und zwar in sogenannten Buden. Das waren ein bis zwei winzige Zimmer und ein Dachboden.

Nach dem Brand von 1842, der weite  Teile der Altstadt ausradiert hat, suchen noch mehr Menschen in den Gängevierteln Unterschlupf. Noch mehr werden es, als der Bau der Speicherstadt 1888 die Menschen aus den günstigen Wohnvierteln der Gegend vertreibt. Schlussendlich lebten hier bis zu 20.000 Personen – die Gängeviertel gelten als größter Slum Europas.

Foto des Großen Bäckergangs mit Anwohnern ©Denkmalschutzamt FHH

In den Buden wohnen teilweise bis zu fünf Personen auf einer Fläche von 20 Quadratmetern. Es ist feucht, es wimmelt von Läusen, Flöhen und Ratten. 

Die Arbeiter und ihre Familien leben unter nahezu mittelalterlichen Bedingungen. Die Twieten, also die Gassen zwischen den Häusern, sind so eng, dass nicht mal ein Handkarren hindurchpasst. In der Mitte dieser Gassen nimmt eine schmale Rinne allen Unrat auf, ein beißender Gestank durchdringt das Viertel. Geld ist hier Mangelware und so schicken Väter ihre Töchter auf den Strich und kleine Jungs tragen durch Taschendiebstähle zum Unterhalt der Familie bei.

Brutstätte des Verbrechens

Die wohl übelste Ecke der Gängeviertel liegt an der Niedernstraße. Dort, genauer gesagt, an der Ecke Depenau. Dort findet sich Hamburgs schlimmste Kaschemme: der Verbrecherkeller. Hier treffen sich die Hamburger Buttjes, also Taugenichtse, mit Ganoven und Huren. Hier fließt billiger Fusel in Strömen und Hehlerware wechselt im Schutz der Dunkelheit ihren Besitzer. Bisweilen verirren sich unbescholtene Bürger in dieses Areal und werden von Koberern in den Verbrecherkeller geschleppt. Dort bringt man sie in einen dunklen Raum und raubt sie aus. Währenddessen wird in der Kneipe weiter gefeiert, gesoffen und getanzt. 

Der Oberbaurat W. Mehlhop schreibt über diese Gegend: „Tag und Nacht trieb sich in der Niedernstraße viel Gesindel umher, sodass sie stets von polizeilichen Doppelposten bewacht werden musste. In verrufenen Kellerräumlichkeiten hausten dort das Laster, der Stumpfsinn und die Verzweiflung, das Elend und der Abschaum des großstädtischen Lebens […] Selbst mitten in der Nacht konnte man hier noch Kinder auf der Straße antreffen.“ 

Der Wirt des Verbrecherkellers allerdings weiß diese zweifelhafte Popularität zu nutzen: Er lässt Postkarten mit Szenen aus der Kneipe drucken und an Hamburger Touristen verteilen. Wehe dem armen Tropf, der, von Neugier geplagt, nur mal einen Blick auf das Elend werfen will …

Der Cholera-Hotspot

Auf diesem Foto kann man erkennen, wie eng die Häuser gestanden haben. ©P. Sackarndt MDA

Doch nicht nur Verbrechen sind in den Gängevierteln an der Tagesordnung, sondern auch Krankheiten. Scharlach, Masern, Diphtherie   oder die Mangelkrankheit Rachitis dezimieren ganze Familien. Die echte Katastrophe kommt 1892: Der Sommer in diesem Jahr ist außergewöhnlich heiß. Das Wasser der Fleete, aus dem die Bewohner der Gängeviertel ihre Trinkvorräte beziehen, ist warm und somit der ideale Nährboden für Keime. Am 14. August befürchtet der Arzt Dr. Hugo Simon bei einem Patienten die Cholera. Kurze Zeit später werden weitere Menschen mit ominösem Brechdurchfall in die Hamburger Krankenhäuser eingeliefert – und sterben nach nur wenigen Tagen.

Doch die Stadt zögert.  Sie befürchtet wirtschaftliche Auswirkungen, wenn das Wort Cholera die Runde macht. Viel zu spät, nämlich erst Ende August, melden die Behörden offiziell, dass in Hamburg die Cholera grassiert. Die Folge: Das Tor zur Welt wird komplett geschlossen.

Gängeviertel: Geburtshaus von Brahms
Das Geburtshaus des Komponisten Johannes Brahms


Tag und Nacht heben Totengräber Gruben für Massengräber aus, in denen am Ende der Epidemie rund 8500 Hamburger beerdigt werden. Der überwiegende Teil von ihnen stammt aus den dunklen Gängevierteln. Keine Cholera-Epidemie in Deutschland verläuft so dramatisch wie die in Hamburg. Der Virologe Robert Koch ist  entsetzt: „Ich vergesse, dass ich in Europa bin. Ich habe noch nie solche ungesunden Wohnungen, Pesthöhlen und Brutstätten für jeden Ansteckungskeim angetroffen wie in den sogenannten Gängevierteln, die man mir gezeigt hat“.

Doch nicht diese Epidemie, sondern erst der Streik der Hafenarbeiter vier Jahre später sorgt dafür, dass  das Gängeviertel abgerissen wird. So auch das Geburtshaus von Johannes Brahms an der Speckstraße. Heute erinnert ein Museum in der Peterstraße an den Komponisten.

Teile des Gängeviertels, hier der Bäckerbreitergang, wurden aufwendig saniert
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