365 Tage im Jahr – 24 Stunden. Die Tür ist stets geöffnet. Eine Anekdote sagt, man habe bei der Eröffnung der „Esso – Reeperbahn“ – gefühlt vor über 100 Jahren – den Schlüssel weggeworfen. Zumindest sind seit 1949 die Eingangstür und zum Glück auch die Ausgangstüren nie verschlossen gewesen. Als es vor ca. 2 Jahren mal zu einem Notfall aufgrund eines übergreifenden Stromausfalls kam, mussten die Türen bewacht werden, weil tatsächlich niemand den Schlüssel hatte.
Aber: es ist wirklich nur eine Tankstelle! Benzin, eine Autowaschanlage, die auch den heißesten Schlitten (muss ja auch; schließlich sind wir auf St. Pauli) gerecht wird, gehören genauso zum Dienstleistungs-Portfolio wie eine Tiefgarage, die in ihrem Zustand auch gut als Krimi-, Thriller- oder Horror-Kulisse dienen kann. Den meisten ist „die Tanke“ wohl eher als 24 Stunden Alkohol-Versorgung und als Schmelztiegel St. paulianischer Kuriositäten im Bewusstsein. Sehr oft wird das gute Stück gar von Türstehern bewacht. Und all zu oft ist man froh, dass sie da sind. Wenn sich meine alte Anwohnerseele in „die Tanke“ schleppt, um sich mit Zigaretten oder mit ein paar Noteinkäufen einzudecken, treffe ich fast jede Bekanntschaft aus meinem Mikrokosmos – mit oder ohne Restalkohol. In den früheren – oder je nach Sichtweise – späteren Stunden steht Yüksel an der Kasse. „Na, wie geht‘s? Feierabend?“ Man murmelt. Eine Geschichte gibt es eigentlich immer zu erzählen. Wissendes Kopfnicken. Ein kleiner Austausch mit dem Kollegen genannt „Onkel“. Lachen oder Kopfschütteln. Es gibt wahrscheinlich nichts, was die Mitarbeiter „der Tanke“ nicht erlebt, gesehen oder zumindest erzählt bekommen haben. Hier herrscht echtes Wissen über die Höhen und Tiefen oder sagen wir lieber Abgründe des Lebens. Um Schnelligkeit geht es hier nicht. Die Schlangen erstrecken sich hier gern viele, viele Meter lang, doch Hektik kommt nicht auf. Es scheint fast so, als sei die Seele des Neoliberalismus an diesem Ort vorüber geschlichen. Gut, ein paar Preisgestaltungen führen schon gern einmal zu Kopfschütteln. Aber andererseits, wer eben schlecht plant und am Sonntag ohne Butter ist, freut sich dann doch, dass er sie kombiniert mit einem Pläuschchen erwerben kann. Irgendwann in naher Zukunft werden wir uns wohl von „der Tanke“ trennen müssen. Investoren planen etwas Neues, Anderes,
Schickes, Größeres – wie fast überall in unserem, ach so beliebt gewordenen, St. Pauli.
Die Chancen auf Sanierung scheinen vertan. Die so genannten Esso-Häuser ächzen unter den Jahren nicht statt gefundener Investitionen. Abriss und Neubau werden wohl über kurz oder lang diesen Ort ereilen. Dann heißt es Abschied nehmen von Yüksel, Onkel, all den Esso-Kollegen, dem Hallo „wie geht‘s“, dem Plausch, den ulkig bis anstrengenden Erlebnissen mit St. paulianischen Gästen, die St. Pauli genutzt haben, um ihre Grenzen auszutesten und den zahllosen Geschichten, die man selber hier erlebt hat. Doch warten wir mal ab – St. Pauli ist ja auch gern für Überraschungen zu haben.
Julia Staron