Kolumne von Maximilian Buddenbohm – Wie ich einmal im Museum für Völkerkunde war, wo der Affe Kleingeld brauchte, aber nur einen leeren Topf hatte



Das Museum für Völkerkunde nennt Sohn I hartnäckig Museum der Völkerstunde. Das macht auch nichts, das klingt ja auch gut und wenn man erst fünf Jahre alt ist, dann sagen einem sowieso beide Begriffe überhaupt nichts. Irgendwas mit Völkern eben, was auch immer das sein mag.  Völker, das sind die anderen, reimt er sich zusammen, die sind nicht von hier. Wir sind auch ein Volk, sage ich, aber wir leben ja noch, sagt der Sohn, deswegen kommen wir nicht ins Museum. Oder nur als Gast. Es ist kompliziert. Ich konnte im Vorwege damit punkten, dass da ein mongolisches Zelt aufgebaut sei, denn daran konnte ich mich noch ganz dunkel vom letzten Besuch erinnern und deswegen kam Sohn I dann überhaupt mit. Ein mongolisches Zelt, vielleicht sogar das von Dschinghis Khan, das sieht man immerhin nicht jeden Tag. Das Zelt haben wir allerdings gar nicht gefunden, vielleicht gibt es das auch gar nicht mehr, aber das Kind war dann eh zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, um noch dauernd an Steppenfürsten zu denken.

 Wenn man das Museum betritt, könnte man theoretisch nach oben, nach rechts oder links gehen. Wenn man ein Kind dabei hat, muss man allerdings zwingend nach rechts gehen, denn schon während man noch die Jacken abgibt, entschwindet der Nachwuchs in dieser Richtung, als wäre dort ein riesiger Kinder-Absorber installiert.  “Indianerland” steht an dem Raum  und da man schon von weitem einen Tipi sieht, gibt es natürlich kein Halten. Echte Indiandersachen, echte Indianerwaffen, echte Indianerkleidung und bei jedem einzelnen Stück fragte der Sohn wieder, ob das denn auch echt sei, wirklich ganz, ganz echt?  Um den dargestellten Gegenstand dann sofort mit Verachtung zu strafen, wenn ich mir nicht ganz sicher war, ob das Ding nun nachgemacht war oder nicht. Man kann einem Fünfjährigen Pfeil und Bogen aus einem gefundenen Stöckchen, einem Bindfaden und zwei Zweigen basteln, er wird den ganzen Tag mit heiligem Ernst damit spielen, und die Waffe wird in seinem Spiel so echt sein, wie sie nur sein kann – aber wenn man bei dem riesigen Adlerfederschmuck im Museum nicht auswendig hersagen kann, welcher Häptling das einmal getragen hat – pfft. Weitergehen, egal, ist wohl nicht echt. Braucht kein Mensch.  Kinder bleiben seltsam, auch wenn man schon ein paar Jahre mit ihnen verbracht hat. 

Ein ausgestopfter Bison, das ist natürlch etwas. Ja, der war mal echt, davor bleibt er lange, lange stehen und guckt. Der ist sogar immer noch echt, nur tot, erklärt er mir.  Ausgestopft.  Und fragt schließlich, ob die Puppe in der großen Vitrine, der man indianische Kleidung angezogen hat, denn auch ein ausgestopfter Mensch sei? Ach, echt nicht?

 Nach mehreren Museumsbesuchen habe ich mich daran gewöhnt, wie das Kind von Schaukasten zu Schaukasten rennt und habe es aufgegeben, irgendeinem logischen Weg durch das Gebäude zu folgen.  Ich verzichte auf alle Pädagogik, lasse entdecken und trotte hinterher. Ich antworte, wenn er etwas fragt und halte es aus, dass er an den besten Dingen vorbeirennt, denn die besten Dinge sind es ja nur für mich, nicht für ihn. Der Sohn galoppiert durch den Raum, ich erzähle ihm nebenbei, dass heute Märchentag im Museum sein, da tragen Märchenerzähler dauernd etwas vor. Er guckt mich an, als hätte ich ihn “mein kleines Babylein” genannt. Er stand gerade vor einer Friedenspfeife und sprach womöglich in Gedanken zu seinem Volk, es war sicher ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt.

 Wir gingen weiter, das Museum hat viele Räume, das Museum ist wirklich ziemlich groß. Auf einer Säule grinste ein Teufelskopf, daneben stand eine ältere Dame, vor der etliche Menschen auf dem Boden saßen. Als wir vorbei gingen sagte sie gerade  “…die Stiefmutter war aber mit dem Teufel im Bunde und hatte ganz andere Absichten…” und ich dachte mit Bedauern, dass es doch ganz nett sei, so einem Märchen zuzuhören. Schade, wenn Kinder so früh schon zu cool dafür sind. Ich wollte das gerade mit dem Sohn noch einmal besprechen, als mir auffiel, dass da gar kein Kind mehr neben mir ging. Das saß nämlich, wie ich sah, als ich ein paar Meter zurückging,  zu Füßen der Märchenerzählerin, den Blick immer noch auf den Teufelskopf gerichtet und hörte ihr mit offenem Mund zu. Ich flüsterte ihm zu, dass wir weitergehen könnten und er flüsterte zurück, dass  es hier um den Teufel ginge und daher doch ziemlich wichtig sei. Dann hörten wir beide zu, bis der Teufel besiegt war. 

 Seltsame Figuren aus der Südsee, riesige Holzskulpturen, davor bleibt man in jedem Alter angemessen beeindruckt stehen, ebenso vor fragilen Schiffskonstruktionen mit Ausleger. Ich wollte gerade erklären, warum man die Schiffe damals so seltsam stabilisiert hat: “… da nahm der Einäugige das himmelblaue Zauberamulett und legte es in seine Augenhöhle und am nächsten Morgen…”. Und da mussten wir dann auch erst einmal bei einem anderen Erzähler zuhören, was es damit genau auf sich hatte und ließen die Schiffe Schiffe sein.

 Die Märchenerzähler sprachen frei, Geschichten aus der Erinnerung, eine fast ausgestorbene Kunst. Es ist verdammt schwer, frei Geschichten zu erzählen, wer das einmal versucht hat, der weiß, wie leicht man ins Stammeln gerät, wie leicht auf falsche Gleise. Wie leicht man Aspekte vergisst oder doppelt benennt, wie oft man sich in den selbstgesponnenen Fäden verheddert. Man ist bei der Urform der Literatur, vor ein paar Tausend Jahren am Lagerfeuer entstanden,  und sie ist ungeheuer anspruchsvoll. Man sieht als Erzähler den Zuhörern in die Augen, man merkt sofort, wenn man nicht wirkt, wenn die Geschichte nicht ankommt, wenn die Scherze nicht funktionieren. Man sieht, wer sich langweilt, man muss reagieren, man muss Zwischenfragen von altklugen Dreijährigen aushalten. Man muss hier mehr für die Kinder tun, da einen Witz für die Erwachsenen einstreuen, jetzt langsamer werden, dann wieder schneller. Wir haben bei etlichen Erzählern zugehört, mein Respekt vor der Aufgabe stieg mit jeder Geschichte, Märchen zu erzählen ist kein Kinderkram. Sohn I war die Vollständigkeit der Geschichten vollkommen egal, er blieb stehen, wenn ihn ein Satz erwischte, er ging sofort weiter, wenn er eine Stelle langweilig fand, immer im Vertrauen darauf, dass es noch mehr Geschichten gäbe, bessere, andere. So wie wir ein Buch weglegen, dass uns nach zehn Seiten nicht fesselt, so liess man früher eben den Erzähler stehen. So wie wir am Klappentext eines Buches hängenbleiben, an den ersten Zeilen eines Blogeintrages, so blieb man früher an einem gehörten Satz hängen. 

Es werden kaum noch Geschichten erzählt. Es wird ungeheuer viel geschrieben, aber wenn wir uns von etwas erzählen, mündlich, dann skizzieren wir nur noch. Drei, vier Sätze, fertig. Selbst wenn wir einen sehr netten Abend mit mehreren Freunde verbringen, erzählen wir uns kaum etwas, auch wenn wir viel miteinander reden. Geschichten mit Spannungsbogen sind aus der Sprachkultur verschwunden und man staunt, wenn man einem guten Märchenerzähler länger zuhört, wie sehr das doch wirkt. 

 Zaubermasken, Gewänder von Schamanen, seltsame Dinge, deren Zweck man im Vorbeigehen nicht einmal ahnen kann. Was man an den Wänden und in den Kästen  sieht, das vermischt sich mit dem, was man hört. Aus dem nächsten Raum hört man einen Satz mit Geistern, noch während man vor einem grinsenden Krokodilskopf steht, denn früher jemand aufhatte, um Geschichten mit Geistern zu inszenieren. Wie sinnig das zusammenfällt, die Märchen aus aller Welt mit den zaubrischen Mitteln aus aller Welt.  Wie das Unerhörte mit dem Gehörten sich mischt, warum werden nicht dauernd in Museen Märchen erzählt? Das ist eine ganz wunderbare Aktion, ich bin sehr begeistert und Sohn I ist es auch, aber er ist müde und will nach Hause.  Man ist eben auch schnell voll mit Geschichten und Gesehenem, da braucht man wieder etwas Abstand und ein paar Meter durch den grauen Hamburger Nieselregen, um sich zu beruhigen und wieder klar denken zu können. Wir gehen zum Ausgang, wir schieben uns an einem Menschenpulk vor noch einem Erzähler vorbei. “Da war einmal ein Affe, der brauchte dringend Kleingeld. Er hatte aber nur einen leeren Topf, na, was sollte er da machen?”

 Natürlich kann man nicht gehen, wenn eine Geschichte gerade anfängt, das ist ja fast unmöglich. Also haben wir uns noch angehört, wie der Affe zu seinem Kleingeld kam, eine vollkommen absurde Geschichte, in der es zur Freude der Kinder viel um Kacke ging. Der Märchenerzähler erzählte, wie der Affe in den Topf kackte und was er dann damit machte, und die Erwachsenen wunderten sich, warum die Kinder dabei so lachten, wirklich sehr albern, und dann erwähnte der Märchenerzähler einen Südseekönig und Sexismus und die Kinder wunderten sich, warum die Erwachsenen so lachten, wirklich sehr seltsam. Und danach kam dann gleich noch das Märchen von dem Frosch, der eine schöne Elefantendame heiraten wollte, das konnten wir auch nicht auslassen und jetzt wissen wir auch, was Sie nicht wissen, nämlich welche Tiere die Nachfahren der beiden sind. 

 Der Märchenerzähler hatte eine Harfe dabei und da mussten wir also auch noch solange bleiben, bis er ein paar Töne darauf spielte. 

 Dann gingen wir wirklich und vor dem Museum schlug uns der Regen ins Gesicht, der Wind pfiff unangenehm kalt und wir drehten uns um, während wie die Jacken zumachten und die Mütze aufsetzten, damit wir den Wind von hinten hatten. Der Sohn sah am Gebäude hoch, aus dem wir gerade gekommen waren, und sagte “Da war jetzt aber viel drin”. Und das kann man für ein Museum mal so als Spitzenbewertung eines Fünfjährigen stehen lassen, glaube ich.

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