Kolumne von Maximilian Buddenbohm – Schlagermove



Der Schlagermove ist eine Einrichtung, die bekanntlich die Stadt spaltet wie kaum eine andere. Hier das tanzwütige Partyvolk, das unter Zuhilfenahme von nicht eben wenig Alkohol in bemerkenswert enthemmtem Zustand und seltsamer Gewandung ein paar Stunden lang auf den Straßen und Plätzen von Sankt Pauli lautgrölend und hüpfend feiern möchte, bis gar nichts mehr geht, dort die verständlicherweise schwer genervten Anwohner, denen Tausende vor die Türen pinkeln und die mit ihren Wohnungen, man kann es leicht nachvollziehen, nicht immer wieder als Dekoration für eine komplett außer Rand und Band geratene Eventmeile herhalten möchten. Dort aber auch die Coolen, die alte Schlagermusik nicht ertragen, die Genervten, die Menschenmassen nicht ertragen, die Nüchternen, die Spaß nicht vertragen und immer so weiter. Es ist gar nicht so einfach, mit dem Schlagermove in Hamburg. Wenn bis zu 500000 Leute feiern gehen, dann kann man das schlecht einfach übersehen, die Auswirkungen des Partybebens merkt man immerhin bis in die Randgebiete.

In dieser Kolumne geht es aber um Kinder in Hamburg, und da muss man natürlich wieder komplett umdenken. Kinder sehen alles anders als Erwachsene, vor allem aber sehen sie vieles zum ersten Mal. Sie haben noch keine Ahnung, keine Vergleiche und gar keine oder sehr wenig von Coolness – und sie haben einen ziemlich seltsamen Geschmack. Manchmal finden sie solche Events besser als die Erwachsenen, manchmal aber auch schlechter, da gibt es die eine oder andere Überraschung. Und während erstaunlich viele Eltern davon ausgehen möchten, dass ihre Kinder die Meinungen und Geschmäcker der Eltern gefälligst zu übernehmen haben, sehen wir das etwas anders und zeigen den Söhnen solche Events, ohne sie vorher aus unserer Sicht darüber aufzuklären, was sie genau erwartet. Sollen sie sich ihre Meinung doch selber bilden, denn eine Meinung kann man auch mit drei oder fünf Jahren schon haben. Vielleicht keine fundierte – aber immerhin eine Meinung. Und mit vier und sechs können sie dann schon wieder eine andere Meinung haben, das ist schon in Ordnung.

Wir fahren also zum Schlagermove. Ohne Verkleidung, man muss es auch nicht übertreiben. Und ohne vorgeglüht zu haben, wir haben Kinder dabei, da trinkt man selbstverständlich nicht. Die S-Bahn ist voll mit ziemlich erstaunlich angezogenen Leuten, die offensichtlich weniger Grund als wir hatten, auf Alkohol zu verzichten. Aber das Wetter ist schlecht, Stimmung kommt in dieser Bahn trotz kreisender Flaschen nicht recht auf. Niemand singt, niemand schunkelt, alle sitzen brav herum. Draußen ist es kalt, windig und es regnet dauernd, das ist eigentlich kein Wetter für einen netten Schlagermove. Das ist ganz klar ein Wetter, um zu Hause zu bleiben, die Decke sehr hoch zu ziehen und auf bessere Zeiten zu warten. Wenn man jetzt keine Kinder hätte… Aber wir haben ja Kinder. Kinder, die skeptisch auf die seltsam angezogenen Leute ringsum blicken, die einfach so zwischen den ganzen normal angezogenen Erwachsenen sitzen. Karneval ist nicht, das wüssten sie, das hätten sie im Kindergarten längst mitbekommen. Was also ist hier eigentlich los in dieser Stadt? Wo fahren wir noch einmal hin? “Zum Schlagermove. Das ist so eine Parade.” Ratloses Nicken.

Wir steigen an den Landungsbrücken aus und die folgende Szene muss man sich aus Kindersicht vorstellen, um sie recht würdigen zu können. Natürlich steigen an den Landungsbrücken enorm viele Menschen aus, und nicht nur aus dieser Bahn. Der Bahnsteig ist also sehr, sehr voll und wenn man erst drei oder fünf Jahre alt ist, dann sieht man erst einmal nichts als Beine. Beine, Beine, Beine, immer noch mehr Beine, lustig geht wirklich anders. Die Menschenmasse aus tausend und mehr Beinen schiebt sich zum Ausgang, quälend langsam geht das, Schrittchen für Schrittchen, ein echter Fußgängerstau. Das nimmt überhaupt kein Ende, so ein Bahnsteig kann ganz schön lang sein. Zwischendurch ein Blick zu den Eltern, die auch genervt gucken, das scheint ja eine prima Veranstaltung zu sein, da könnte man ja jetzt schon einmal die Unterlippe ein klein wenig vorschieben, so auf Verdacht. “Ist es noch weit? Wann fahren wir zurück? Gibt es hier auch Eis?”

Dann endlich der Ausgang und durch einen irren Zufall kommt genau in dem Augenblick nach langen Regentagen wieder die Sonne durch, in dem wir ins Freie treten. Vor uns eine unübersehbare Menschenmenge im plötzlich gleißenden Sonnenlicht, die Straßen, Dächer und die parkenden Autos sind noch nass vom letzten Schauer und alles glänzt und funkelt. Die Menschen in der endlosen Menge sind alle unfassbar bunt gekleidet, die Masse wogt im Takt zu lauter Musik, sie hüpft und schunkelt. Luftballons steigen in Trauben auf, endlose Mengen von Seifenblasen werden aus Maschinen über die Menge gepustet. Bunt geschmückte Lastwagen mit seltsamen Aufbauten stehen wie Inseln in der Menge, auf den Lastwagen stehen ebenfalls verkleidete Menschen und tanzen, die Hände sind zum Himmel erhoben. Die Hände der tanzenden Menschen auf den Lastwagen sind erhoben, die Hände der wogenden Masse sind erhoben, die Hände werden hin und her geschwenkt und ein Chor von zigtausend erwachsenen Menschen singt gerade aus Leibeskräften: “Und diese Biene die ich meine, nennt sich Majaaa….”

Und wenn man Norddeutscher ist und daher norddeutsche Kinder hat und keinen Karneval kennt und keine anderen exzessiven Straßenfeste, dann ist es dieser Augenblick auf jeden Fall wert, den Schlagermove zumindest kurz mit den Kleinen zu besuchen. Diese völlige Fassungslosigkeit der Kinder darüber, dass die ganze Stadt anscheinend beschlossen hat, sich komplett lächerlich anzuziehen, auf den Straßen herumzutanzen und lauthals alberne Kinderlieder zu singen – dieser für Minuten offen stehende Mund im völlig ratlosen Kindergesicht, doch, das hat was. Als wäre man mal eben mit der Familie in ein Paralleluniversum gewechselt, als wäre man nach vier Stationen mit der S-Bahn auf einem ganz anderen anderen Planeten ausgestiegen. Willkommen auf Erde II, hier geht es etwas anders zu. Warum haben Sie denn noch keine Blumen im Haar?

Und dann kann man noch eine Weile mit dem Zug mitziehen und die Kinder einfach zusehen lassen. Es ist natürlich ratsam, den Kleinen Gehörschutz aufzusetzen, wenn man mit dem Wagen mitgeht. Die Musikanlagen auf den Trucks können was, die sollen schließlich ganze Straßenzüge beschallen. Man kann auch vielleicht dafür sorgen, dass die Kinder das ganze Wildgepinkel an den Büschen, Bäumen und Mauern und Hauseingängen nicht so mitbekommen, das man ohnehin nicht mehr recht verstehen kann, da Dixi-Klos reichlich aufgestellt werden und kaum Warteschlangen davor zu sehen sind. Was ist denn bloß mit den Leuten los? Ist es in den letzten Jahren irgendwie Kult geworden, einfach enthemmt in die Gegend zu pinkeln? Man kann auch dafür sorgen, dass die Kinder die Alkoholleichen in unerfreulichem Zustand am Straßenrand nicht so genau wahrnehmen, doch, das kann man alles schaffen. Sehen werden Sie das aber natürlich trotzdem, zumindest aus den Augenwinkeln, und warum auch nicht. Die Welt ist so, Leugnen zwecklos. Die Kinder sehen sich alles an, sie hören die Musik, sie denken vor sich hin. In der ersten halben Stunden sind die Kinder so gut wie reglos, nichts als Staunen im Gesicht, die Augen groß wie selten. Dann erst geschieht die Wandlung. Der Fünfjährige hat nämlich schlagartig mitbekommen, dass von einigen Wagen Süßigkeiten geworfen werden, er übernimmt ab sofort die Rolle eines geschickten Jägers, der zwischen den Beinen der Erwachsenen durch immer wieder nach Bonbons hechtet, Beute sammelt und nach mehr lauert, mit scharfem Blick und angespannten Muskeln. Das Kind ist ganz Jagd, ganz Gier, und das Kind ist jetzt sehr zufrieden mit der Veranstaltung und fragt schon einmal, ob man da nicht jedes Jahr hingehen könne? Das ist doch hoffentlich jedes Jahr? Wenn er wüsste, was beim Karneval im Rheinland passiert, er wäre ganz klar für einen Umzug in das offensichtlich bessere Bundesland. So etwas Tolles, fliegende Bonbons. Da nimmt er sogar die blöden Tänzer in Kauf, die ihm etwas auf die Nerven gehen, weil sie dauernd im Weg stehen. Oder, noch schlimmer, auf den Bonbons. Die blöden Banausen. 

Der Dreijährige braucht ein wenig länger als sein großer Bruder. Er hört sich die Musik genau an, murmelt Refrains mit und nickt ab und zu. Die Musik, das reine Wummtata der Siebziger, ist fraglos kinderkompatibel, schlicht und eingängig. Sagt mal, von wo kommt ihr denn her? Aus Schlumpfhausen, bitte sehr. Das kann man schon nach zweimaligem Hören komplett mitsingen, das wird man dann nie wieder los. Der Dreijährige sitzt auf den Schultern der Mutter, hört sehr interessiert zu und sieht sich die Tanzenden an, ganz genau sieht er sie sich an. Verdreht den Hals, wenn jemand sehr expressiv tanzt, dreht sich lange nach den wildesten Hüpfern um. Und nachdem der zehnte Wagen an uns dröhnend vorbeigezogen ist, hat er plötzlich genug von dem langweiligen Herumsitzen, er strampelt, er will runter, und zwar sofort und zwar dringend. “Wann wird’s mal wieder richtig Sommer” dröhnt gerade von einem Truck vor uns und der Sohn springt auf den Boden – und tanzt. Tanzt wie entfesselt, wirft die Arme hoch, dreht sich, demonstriert einen Hüftschwung, der sich sehen lassen kann. Man weiß nicht, woher er das mit nur drei Jahren haben kann, vom Vater hat er das definitiv nicht geerbt. Der Kleine fasst die Mutter an den Händen und dreht sich mit ihr, tanzt kreischend und lachend alles nach, was er in der letzten halben Stunden gesehen hat, er schwooft und schunkelt und schleudert Arme und Beine und die Leute bleiben um ihn herum stehen und klatschen, denn dieses Kind geht ab wie der legendäre Tänzer von Boney M. damals, in der guten alten Zeit. Das Kind hat unübersehbar größtes Vergnügen an uralter Partymusik, es ist komplett selig, dass es hier unter freiem Himmel mit so vielen Leuten immer weiter herumtanzen kann und wenn man das so sieht, dann ahnt man doch zumindest, wie der Schlagermove für einige auch sein kann. Oder wie er einmal gemeint war, damals, ganz am Anfang, Ende der Neunziger, als nur ein paar tausend Besucher da waren und nicht halb Norddeutschland.

Kinder sind nämlich gut geeignet, einen überzeugend an das elementar wichtige Motto einer längst vergangenen Zeit zu erinnern: “Ein bisschen Spaß muss sein.”

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