Kolumne von Maximilian Buddenbohm – Im Wildpark Schwarze Berge

Wir waren im Wildpark Schwarze Berge, das ist eine der Attraktionen im Süden Hamburgs, also auf dieser anderen Elbseite da. Wenn man mit dem Auto zum Wildpark fährt, kann man quer durch den Hafen fahren, sogar über die Köhlbrandbrücke. Dann ist die Aussicht auf der Fahrt schon das erste Highlight des Tages. So etwas sieht man als Hamburger ja sonst gar nicht, das ist schließlich eher etwas für Touristen – aber es ist dann doch einmal ganz schön. Man merkt wieder, wie viel Fläche der Hafen braucht, wie viel Logistik da hinten an der Elbe dran hängt, wie viel Industrie und Gewerbe da in der Gegend herumsteht. In der Gegend, die man vor lauter Lagerhallen gar nicht als Gegend erkennt, Gegend ist hier nur noch die Lücke zwischen zwei Containerschuppen. Und warum sollte man sich davon nicht ab und zu einmal beeindrucken lassen, das gehört doch genau so zur Stadt wie die Landungsbrücken und die Alsterfontäne.

Wir waren mit sieben Kindern im Wildpark, so etwas macht den Kindern nämlich noch mehr Spaß, wenn sie dabei im Rudel auftreten dürfen. Das machen viele der Tiere dort übrigens auch so. Rudel geben Sicherheit, das gilt im Wildpark auf beiden Seiten der Zäune. Sieben Kinder und sechs Erwachsene waren wir, die Kinder waren uns also geradezu dramatisch überlegen. Das liegt daran, dass Erwachsene dauernd beschäftigt sind und deswegen nicht nach den Kindern sehen können, sie müssen nämlich fortwährend Essen auspacken, einpacken oder umpacken oder verteilen, Wasserflaschen öffnen oder schließen, Toiletten suchen, Eis kaufen, Tierfutter besorgen und so weiter und so weiter, von sechs Erwachsenen kann man im Grunde mindestens drei durchgehend vergessen. Bleiben drei übrig, drei gegen sieben, da ist man chancenlos. Vor den ersten Gehegen zählt man noch alle paar Minuten verbissen die Kinder durch, kurz darauf merkt man, dass sehr, sehr viele Kinder im Park sind, die alle permanent durcheinander laufen und, gewissen großen Textilketten zum Dank, alle farbgleiche Jacken anhaben. Ein paar Tiere später baut man ganz entspannt darauf, dass die Kleinen unter sich schon merken werden, wenn eines von ihnen fehlt. Währendessen phantasiert man heimlich von Fußketten, GPS-Ortung, Hütehunden und anderen Hilfsmitteln und darf darauf bauen, dass alle Erwachsenen sicherlich das gleiche denken.

Im Eingangsbereich des Wildparks kann man Bollerwagen mieten. Das ist sehr praktisch, so ein Bollerwagen, in dem man wahlweise eine Handvoll der mitgeführten Kinder oder die gefühlte Tonne Proviant hinter sich herziehen kann. Viele Gäste mieten sich so einen Bollerwagen, viele kommen aber auch mit Kinderwagen oder Buggy und wenn man Parkbesucher mit Erfahrung ist, dann kann man hier eine deutliche Warnung aussprechen. Der Wildpark Schwarze Berge heißt nämlich so, weil er tatsächlich bergig ist. Bergig im Sinne von zwischendurch verdammt steil, Waldweg, ungepflastert, was man so reizvolle Landschaft nennt. Ein voller Bollerwagen, den man hinter sich her eine Anhöhe hochzieht, fühlt sich ziemlich schnell an wie ein Panzer am Abschleppseil. Ein Buggy mit gut genährtem Kleinkind drin, den man vor sich her einen Berg hochschiebt, führt zu seltsamsten Körperhaltungen. Je nach Gepäck und Nachwuchs ist ein handelsüblicher Rucksack vielleicht doch die bessere Wahl.

Steil heißt also Mühe und Muskelkater, steil heißt aber auch, der Park ist wirklich schön. Der macht landschaftlich schwer etwas her, so etwas gibt es sonst weit und breit nicht. Das Tal, in dem man die Rehe füttern kann, das ist schon ein besonderer Anblick und der Eingang zum Tal ist genau und berechenbar der Punkt, an dem die Gäste mit einer Wahrscheinlichkeit größer 90% so etwas sagen wie “Das ist aber WIRKLICH schön.” Und wenn sie kurz darauf ein Reh aus der Hand füttern, vielleicht sogar zum ersten Mal im Leben, dann sind sie alle hingerissen, ob sie nun drei oder dreiundsiebzig Jahre alt sind.

Im Wildpark gibt es Rehe und Wildschweine und andere heimische Tiere, natürlich auch solche, die man beim Spaziergang im Stadtpark nicht unbedingt erwarten darf. Wölfe und Luchse etwa, über deren Gefährlichkeit und Bewaffnung man mit fünfjährigen Jungen verblüffend lange und detailreich diskutieren kann. Es gibt Tiere, die einem irgendwie bekannt vorkommen, man ist sich aber nicht ganz sicher. Ist das da jetzt ein Hirsch? So ein ganz normaler Hirsch oder irgendein spezieller? Gibt es am Ende in Deutschland mehrere Hirscharten? Wie war das noch? Allgemeines Schulterzucken. Der nicht lesekundige Nachwuchs fragt und fragt, die Eltern machen möglichst unauffällig lange Hälse und linsen nach den Schildern am Zaun. Das müsste man eigentlich alles erkennen, was hier vor einem steht, das hat man alles schon im Biobuch oder im Wald gesehen. “Das da ist eine Eule”, sagt ein Vater stolz, denn da kennt er sich aus, glaubt er jedenfalls. “ Kein Uhu?” fragt ein Kind im freudigen Besserwissertonfall und der Vater grübelt und sucht schon wieder nach dem verdammten Schild. Aber da, das ist ein Reiher, haha, das war einfach. Oh. Na gut, ein Schwarzstorch.

Hochlandrinder, diese schottischen Frisurwunder, die stehen da auch herum, auf einer großen Weide. Sie stehen und wirken sehr zufrieden, von allen Tieren im Park scheinen sie sich mit der Situation am besten zu arrangieren. Sie sehen aus wie pummelige Späthippies in schräger Outdoormode, sie stehen und gucken und wenn man genau hinsieht, dann wirkt es so, als würden sie grinsen. Unentwegt. Hochlandrinder könnte ich stundenlang ansehen, aber die Kinder wollen weiter.

Daneben ein Teich und auf dem Teich eine Ente, eine gewöhnliche, ganz normale Durchschnittsente, wie sie auf jedem Teich im ganzen Land dümpelt. Die Kinder geraten aus dem Häuschen, als wäre das die erste Ente ihres Lebens. Da kann man noch so lange erklären, dass die gar nicht zum Tierpark gehört, die Kinder haben klar erkannt, dass sie ja im Tierpark ist und gucken die Erwachsenen an, als wären sie nicht bei Trost. Eine Ente, hey, eine Ente. Kopfschüttelnde Erwachsene, glückliche Kinder.

Zwischendurch ohne Kinder auf die Toilette, da hat man als Vater wenigstens eine Minute Ruhe. Und da hängt über dem Pissoir eine wirklich zielgruppengerechte Werbung für entnervte Väter, die seit zwei Stunden Kindern hinterherrennen: “Workshops für Kettensägen-Schnitzerei”. Ja, das wäre es jetzt! Mit einer Kettensäge einen Baumstamm zerlegen, große Blöcke herauslösen, Scheite hinter sich werfen, dann langsam immer genauer werden, bis nur noch ein überraschend zartes Röschen überbleibt, dieses auf Knien der Ehefrau überreichen, Romantik! Man kommt ja zu nichts mehr, wenn man erst Kinder hat. Dummerweise braucht man einen Kettensägenführerschein für die Workshops, das schien mir dann doch zu kompliziert. Sehr schade.


Zwei Braunbären, die sieht man sonst nirgendwo, da kann man also etwas länger stehen bleiben und ihnen zusehen. Sie laufen herum, die beiden Bären, Riesen im Passgang, zwischendurch rennen sie sogar, da sieht man gleich, dass Weglaufen vor ihnen völlig sinnlos wäre. Einer klettert in erstaunlicher Geschwindigkeit einen Baum hoch, einen ziemlich schmalen, ziemlich astlosen Baum, da bleibt den Kindern der Mund offen stehen, einerseits vor Neid, andererseits aus Angst. Beim weiteren Weg durch den Wald wollen sie dann doch einmal genau wissen, welche Tiere hier außerhalb der Zäune so vorkommen, bei uns in der Gegend. Bis zum Gehege der Wölfe hat man dann Zeit, die Kinder zu beruhigen, was ganz gut klappt, bis einem der Erwachsenen eine wirklich wilde Wildschweingeschichte aus seiner Jugend einfällt, damals nachts im Wald. Eine haarsträubende Geschichte, die ein anderer natürlich noch überbieten kann,  und seine Freunde haben auch etwas in dieser Art gehört, wie war das noch einmal? Die Sache mit dem Keiler? Im Grunde scheinen wir alle einmal ein Wildschwein getroffen zu haben, merken wir, ein einig Volk von Trappern und Pfadfindern. Die Kinder hören uns äußerst beunruhigt zu und freuen sich dann ein paar Meter weiter doch über die Frischlinge hinter dem Zaun. Mit Konsequenz hat man es im Vorschulalter noch nicht so.

Wenn man die Ziegen erreicht hat, zu denen man natürlich in das Gehege steigen darf, um sie zu füttern und zu streicheln, dann weiß man, dass man bald am Ende des Rundweges ist, dann kommt bald der wirklich große Spielplatz. Der ist so groß, dass man ohnehin keine Chance hat, mehr als ein Kind im Blick zu behalten, da kann man auch gleich ganz entspannt auf einer Bank einen Latte Macchiato trinken, der hier überraschend gut und zu reellem Preis aus dem Automaten kommt, das können bitte alle anderen Freizeitparks in Norddeutschland mit sofortiger Wirkung so übernehmen.
“Welches Tier war am besten?” fragt man die Kinder auf der Rückfahrt. Keines von ihnen nennt die anscheinend stets chillenden Hochlandrinder. Man hört sich an, was die Kinder sagen, Bär, Wolf, Luchs, Hirsch, Otter, Streichelziegen, sie schreien wie immer alle durcheinander. Und man selbst hört dem Stimmengewirr zu und denkt dabei nur an ein Tier, dessen Bild man gar nicht mehr loswird. Denn man möchte im Grunde seines Herzens so gerne vor dem Spiegel im Badezimmer endlich einmal wieder so tiefenentspannt und selbstzufrieden aussehen wie ein Hochlandrind. Und man halte das nicht für einen bescheidenen Wunsch.

Der Wildpark Schwarze Berge – da ist bestimmt für jeden das passende Tier dabei.

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