Kolumne von Maximilian Buddenbohm – Im Alten Land

Wir waren mit den Söhnen und noch ein paar anderen Kindern im Alten Land, auf einem Obsthof. Im Alten Land ist gerade Apfelernte, das gehört zu den Ereignissen im Jahresablauf, die man als Hamburger unweigerlich mitbekommt, die Regionalmedien sind verlässlich voll davon. Aber tatsächlich war ich selbst noch nie da, ich kannte das riesige Obstanbaugebiet dort bisher nur vom Umfahren und aus den Zeitungen. Aber am Wochenende unternimmt man als Familie natürlich stets etwas zusammen, und so wurde auch das Alte Land ein Ziel. Mit Kindern lernt man eben eine ganz neue Dimension seiner Heimat kennen, es soll mir recht sein.

Wobei die Idee, dort hinzufahren, natürlich von den Erwachsenen ausging. Der Nachwuchs war zunächst nur mäßig begeistert. Oder, wie Sohn I es ausdrückte, als er nach der Tagesplanung fragte: “Zur Apfelernte? Das habe ich nie so beschlossen.”  Aber mit sechs Jahren gewinnt man eben noch keine familiären Abstimmungen, wenn es um die Ausflugsplanung geht, deswegen standen wir am Sonntag also auf einem Obsthof. Und die Begeisterung der skeptischen Kinder stieg sofort nach dem Aussteigen, denn auf einen Blick war klar: es gibt Schubkarren für alle und außerdem Apfelpflücker. Also diese langen Stangen mit dem Greifkranz und dem Beutel dran, Objekte der Begierde für alle Kinder. Manchmal staunt man ja, wie einfach es sein kann. Aus Kindersicht sind die Stangen natürlich sehr, sehr lang und es ist gar nicht einfach, damit erfolgreich zu pflücken, mit so einer Herausforderung kann man schon einmal eine Stunde flott und unterhaltsam herumbringen.

Man kann die Äpfel direkt in Kisten pflücken, auch in diese altersgezeichneten Holzkisten, die in der Innenstadt gerade in jedem zweiten  Dekoladen als „Nostalgiekisten” verkauft werden, damit die urbanen Wohnzimmer auch ein wenig nach Landlust aussehen. Diese Kisten kosten auf einem Obsthof übrigens nur die Hälfte, kleiner Tipp nebenbei.

Wir schoben also los, zwischen die langen Baumreihen, an denen Äpfel in beeindruckender Fülle und Pracht hingen. Eine Reihe nach der anderen, immer noch eine,  und wo der Hof zu Ende war, da kam schon der  nächste mit immer weiteren Reihen. Äpfel, Äpfel und noch  mehr Äpfel, das kann man wirklich einmal gesehen haben, da macht es schon Spaß, einfach das Bild auf sich wirken zu lassen. Verschiedene Sorten, versteht sich, also auch verschiedene Farben. Verschieden Geschmäcker und Grade der Reife und Saftigkeit.

Der Apfel ist eigentlich unser gewöhnlichstes Obst, es vergeht kein Tag, an dem kleine Kinder heutzutage nicht kleingeschnittene Äpfelchen dabei haben. Apfel ist immer und überall. Jede Familie kennt die Machtkämpfe um die Frage, ob die Äpfelchen vor dem Eintuppern geschält werden müssen oder nicht, das wiederholt sich wieder und wieder, in jedem Haushalt.  Und ich werde nicht der einzige Vater sein, der allabendlich auf dem Sofa die Apfelreste der Kinder wegknabbert. Man kann sich also durchaus fragen, ob Kinder ausgerechnet Äpfel spannend finden, wenn plötzlich Zigtausende davon vor ihnen in Bäumen hängen. Mehr von dem, was immer ist, soll plötzlich interessant sein? Die Antwort ist: ja. Die ganz korrekte Antwort ist: ja, und wie.

Das liegt zum einen daran, dass baumfrische Äpfel eben doch um Klassen besser schmecken als die Supermarktäpfel aus welchem Land auch immer und wer weiß welchen Alters. Obwohl Kinder  sicher nicht gerade als Feinschmecker durchgehen, hat sich unsere kleine Meute doch mit erstaunlicher Begeisterung durch die Reihen  probiert. Jedes Kind eine kleine Raupe Nimmersatt, ob mit vier oder mit vierzehn Jahren. Eine Reihe weiter, noch eine Reihe weiter, immer andere Äpfel. Und dann musste man auch wieder zurück, um noch einmal zu vergleichen.  Und dann noch einmal, um diese eine Sorte Papa zu  zeigen, die andere Mama, und ist nicht doch diese hier noch saftiger? Oder war es die dahinten? Es wuselte immer wieder zwischen den Bäumen hin und her, schmatzende Kinder im Jagdmodus, auf der Suche nach dem perfekten Apfel.

Die Begeisterung über den Besuch lag zum anderen aber auch daran, dass diese endlose Folge von Bäumen gar nicht langweilig ist, sondern einen ganz spannenden Effekt auslöst, von dem auch die Erwachsenen überaus deutlich betroffen waren. Man steht nämlich vor so einem Bäumchen, pflückt einen Apfel und sieht dabei den nächsten Baum, an dem die Äpfel irgendwie noch besser aussehen. Dann geht man zum nächsten Baum, pflückt einen dieser etwas besser aussehenden Äpfel und sieht dabei den nächsten Baum, an dem anscheinend eine ganz andere Sorte hängt – hatte man die schon? Da muss man auch hin, und dann sieht man dort wieder den nächsten Baum… und was pflücken die anderen eigentlich? War ich da schon?

Das ist ganz seltsam, wie stark der Effekt ist. Man kann die Wirkung leicht daran merken, dass man mit irrsinnigen Mengen bester Äpfel nach Hause geht. Nie hatte man vorgehabt, so viele mitzunehmen, was braucht man schon? Wieviele Äpfel kann man essen? Aber wenn man da so steht, vor dieser leuchtenden Herrlichkeit  – man will sie alle haben.  Nein, man muss sie alle haben.

Die Kinder kamen natürlich auch schnell darauf, dass man die meisten Bäume prima erklettern kann. Das ist aus naheliegenden Gründen nicht erwünscht, aus ebenso naheliegenden Gründen aber auch kaum zu verhindern. Wo die besten Früchte doch oben hängen, und dort womöglich an schwer zugänglicher Stelle, an die man mit dem Pflücker so schlecht ankommt. Und wo man auf Apfelbäume doch so dermaßen leicht raufkommt. Während wir den fünf Kindern noch erklären, warum sie da nicht zu klettern haben, sind drei schon wieder oben verschwunden. Man erkennt ihr Klettern an den schwankenden Kronen und ab und zu hört man aus schwer zu ortender Richtung wilde Schreie, die uns den Fund des perfekten Apfels verkünden. Besser als alle, alle anderen! Und wenn man die Quelle des Rufens endlich gefunden hat, wurde der Apfel schon wieder verworfen, da sind noch interessantere aufgetaucht, größere, schönere.

Am Ende haben die Kinder und wir alle beeindruckende Mengen Äpfel gegessen und auch auf der Rückfahrt essen sie immer noch weiter. Sitzen stolz vor den randvollen Kisten und legen sich gemeinsam Geschichten zurecht. Geschichten von hohen Bäumen sind das, von märchenhaften Früchten. Geschichten von endlosen Baumreihen, wahnsinnig langen Apfelpflückern und riesigen Kisten. Geschichten also, mit denen sie in der Kita oder in der Schule angeben können. Und das ist ein gutes, ein wirklich sehr gutes Zeichen für den Erfolg eines Ausflugs.

Zur Apfelernte ins Alte Land – das sollte man tatsächlich einmal gemacht haben.

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