Ich habe Sohn II gefragt, was für einen Ausflug er spannend finden würde. Er hat ohne zu zögern etliche Vorschläge aufgezählt, für seine Verhältnisse war er sogar ganz ungewöhnlich kooperativ und für einen Vierjährigen auch verblüffend kenntnisreich. Dummerweise bezogen sich aber seine sämtlichen Vorschläge auf Eisdielen, Kioske mit Eisverkauf und Supermärkte mit Eis in den Tiefkühltheken. Das klang alles nicht so, als könnte daraus Stoff für eine Kolumne werden, in der es um Hamburger Attraktionen gehen soll. Also habe ich selbst angefangen, mögliche Ziele aufzuzählen, die an dieser Stelle bisher nicht vorkamen. Museen, Wildparks vor Hamburg, Spielplätze, Bauernhöfe am Stadtrand, Tretbootverleihstationen, Schwimmbäder. Der Sohn hörte interessiert zu und fragte, wo es denn da Eis gäbe. So ein langer Sommer hinterlässt eben doch Spuren in den Seelen der Kinder.
Ich gab mir noch etwas mehr Mühe bei der Schilderung der Attraktionen, ich beschrieb den Reiz der Ziele etwas kindgemäßer. Ich verfiel in diesen typischen Hey-alles-ist-toll-Tonfall, den Eltern immer dann annehmen, wenn die Hoffnung langsam schwindet, das Kind noch in akzeptabler Zeit zu etwas überreden zu können. “Hey, wir könnten doch zum Michel, da ist ein großer Kirchturm, auf den man mit dem Fahrstuhl fahren kann! Toll! Da kann man ganz Hamburg von oben sehen!” Der Sohn fragte, ob man da oben vielleicht Eis… Egal. Im Prinzip mag das Kind Fahrstühle, im Prinzip mag es Kirchen, da gab es doch nichts mehr zu überlegen. Fand ich. Ein Eis würde sich hinterher schon finden lassen.
Ich zog also ein schlecht gelauntes Kind an, das nicht verstand, warum man in dieser Familie neuerdings erst in die Kirche muss, bevor man ein Eis bekommt. Aber es machte dann doch halbwegs willig mit, das gute Kind, auch mit vier Jahren ist man schon so weit verhandlungsfähig. “Man kann da ganz mit dem Fahrstuhl rauf”, sagte ich noch einmal, “und Hamburg von oben sehen. Alles ganz klein! Das sieht bestimmt super aus.”
Wir gingen also in den Michel. Ich zeigte dem Sohn zuerst das Kirchenschiff, es ist immerhin ein beeindruckender Bau und Barock sieht man nicht gerade an jeder Ecke in Hamburg. Über uns die große Orgel, ich zeigte hinauf und fragte das Kind, ob es die richtig große Orgel auch gesehen habe? “Ja, Orgel”, sagte er unbeeindruckt, nachdem er das Instrument für den Bruchteil einer Sekunde angesehen hatte, “große Orgel. Wo ist jetzt dieser Fahrstuhl?”
Wir kauften das Ticket, dann gingen wir hinter dem Kassenbüdchen um die Ecke zum Fahrstuhl. Man muss noch ein paar Stufen hochsteigen, bis man zum Fahrstuhl kommt. Der fängt nicht ganz ebenerdig an, sondern etwa in der Höhe des ersten Stocks, wenn man es auf ein Wohnhaus umrechnet. Ich sprang die ersten Stufen hoch und wäre fast gestürzt, weil mich mitten in der Bewegung ein seltsam schweres Bleigewicht an der Hand ruckartig zurückhielt. “Das ist eine Treppe”, sagte der stocksteif stehende Sohn, flammenden Zorn im Blick, den Zeigefinger mahnend in die Höhe gerichtet. “Ja”, sagte ich, “aber nur ein paar Stufen. Bis zum Fahrstuhl. Siehst du, da?” Ich zeigte auf den nächsten Treppenabsatz, hinter dem ich den rettenden Fahrstuhl vermutete. Das Kind verschränkte die Arme vor der Brust und erklärte mir, dass das also gelogen sei, das mit dem Fahrstuhl, dass man eben nicht mit dem ganz nach oben fahren könne, denn ganz sei ja hier, wo er jetzt sei, und hier sei eine blöde Stufe, wobei er voller Wut gegen die Treppe trat. Was das denn für ein Fahrstuhl sei, mit Treppen dran? Und wo es eigentlich Eis gäbe? Und wann?
Um eine schlimmere Eskalation in der Kirche zu vermeiden, klemmte ich mir den renitenten Sohn unter den Arm, trug ihn schnell die Stufen hoch und stopfte ihn in den Fahrstuhl. Der hat natürlich eine etwas größere Fahrkabine, damit viele Menschen reinpassen, 30 oder mehr. Und der Fahrstuhl wurde auch tatsächlich voll, der Michel ist immer gut besucht. Lauter Touristen, die schweigend auf die Anzeigetafel mit den Höhenmetern sahen. Es war nichts zu hören, außer dem leisen Surren des Motors und dem wüsten Geschimpfe meines Sohnes, den man allerdings nicht sehen konnte, weil er zwischen meinen Beinen stand. “Echte Fahrstühle haben gar keine Stufen! So ein doofer Fahrstuhl! Hier gehe ich nie wieder hin! Ich wollte überhaupt keinen Ausflug!”
Oben angekommen strömte die Menge aus dem Fahrstuhl und verteilte sich ans Geländer der Aussichtsplattform. Sohn II sah einmal kurz hinunter, auf den Hafen und die silbern glänzende Elbe, die Wirrnis der großen und kleinen Schiffe, das endlose Dickicht der Kräne an der Elbe und fragte dann, ob wir jetzt wieder runter könnten. Zu einem Eis zum Beispiel. Und ob man beim Runterfahren eigentlich auch wieder Stufen steigen müsse? Echt? Das könne doch wirklich nicht wahr sein? Ich sah mich noch ein wenig um, während er schimpfend an meiner Hand zog. Der Blick ist nämlich wirklich spektakulär von da oben und ich bin vorher noch nie da gewesen, ich habe da immer nur Besucher aus anderen Städten hingeschickt. Es ist toll, so weit sehen zu können. Man könnte ziemlich lange da oben stehen und gucken, man bekommt auf einmal ein ganz anderes Verhältnis zur Lage des Hafens in der Stadt, auch zur Größe des Hafens. Man könnte auch tolle Fotos machen, wenn gerade keiner an einem ziehen würde. Das ist faszinierend, so ein Helikopterblick auf den Stadtplan mit sich bewegenden Autos und gleitenden Flugzeugen und schaukelnden Barkassen, da merkt man gar nicht, wie die Zeit vergeht. Der Sohn zog immer energischer an meiner Hand.
Er wollte runter. Die Stufen endlich hinter sich bringen. Und raus. Und ein Eis.
Wenn Sie zum Michel gehen, weisen Sie eventuell mitkommende Kinder lieber vorher darauf hin, dass der Fahrstuhl erst nach ein paar Stufen beginnt. Und nehmen Sie besser nur gutgelaunte Kinder mit. Und wenn Sie wieder runterkommen und aus dem Hauptportal gehen, einfach einmal über die Straße – da gibt es Eis.