Kolumne von Maximilian Buddenbohm – In Hagenbecks Tierpark


Foto: Götz Berlik

Man war bei Hagenbeck oder bei Hagenbecks. Oder einfach im Zoo. Man geht nach Hagenbeck, zu Hagenbeck, in den Zoo oder in Hagenbecks Tierpark. Oder in den Tierpark Hagenbeck? Da sind sich die Hamburger nicht einig, das geht alles durcheinander. Klar ist nur, wenn man Kinder hat, dann geht man da selbstverständlich ein- bis zweimal im Jahr hin. Seit es das neue Tropenaquarium gibt, kann man im Sommer in den offenen Park, im Winter ins geheizte Troparium gehen, das ist einfach und leicht zu merken und gibt dem Jahr Struktur. “Der Sommer ist nicht um, wir waren noch nicht bei Hagenbeck.”


Foto: Hagenbeck

Der Eintritt ist nicht günstig, aber viele Besucher verstehen das. Denn der Tierpark wird nicht gefördert, er erhält keine Gelder von der Stadt, dem Land oder der EU. Das ist alles privat finanziert, ein altes Familienunternehmen, kein subventionierter Staatsbetrieb. Man geht trotz der Preise hin, denn man muss den Kindern irgendwann Giraffen und Paviane zeigen, Zebras und Tiger, das ist Teil der menschlichen Grundausbildung. Die Erwachsenen, die aufgeregte Kinder von Gehege zu Gehege führen, sehen sich im Park um und denken zurück. Hier war jeder schon oft, viele zuletzt in der eigenen Kindheit. Hagenbeck ist für den Norddeutschen immer auch eine nostalgische Angelegenheit.  Das fängt ganz vorne an, man steht an der Kasse und denkt an damals. Damals war der Eingang doch noch woanders? Und sah irgendwie anders aus? Damals waren dahinten die Bären. Damals ging es hier lang, damals war noch Tante Clara dabei, damals hat mir der Strauß die Schokolade geklaut. Damals waren die Flamingos aber intensiver rosa, damals sah der Spielplatz anders aus, nur wie denn bloß? Damals schmeckten die Pommes anders, damals gab es andere Eissorten. Man sieht den eigenen Kindern oder Enkeln zu und versucht, die Bilder übereinanderzublenden. Manchmal gelingt es, manchmal nicht. Was war hier früher, genau an der Ecke da?


Foto: Götz Berlik

Den Kindern ist damals vollkommen egal, die Kinder kennen nur die Gegenwart und in der steht ein gigantischer Elefant vor ihnen, der mit dem Rüssel die Wurzeln annimmt, die man ihm reicht. Ein lang pendelnder Rüssel direkt vor den Kindern, weiter hinten ein junger Elefant, der mit einem Stock herumspielt, da kann man gleich eine Stunde und viele Karotten einplanen, da kommt man so leicht nicht wieder weg. Man steht beim allerersten Gehege und kommt nicht weiter. Aber egal, den ganzen Park schafft man sowieso nie. Wenn es Tiere in Hagenbecks Tierpark gibt, die nie jemand gesehen hat, es würde in Hamburg niemanden wundern. Den korrekten Rundweg hält sowieso niemand ein, auch da gibt es Familientraditionen, die unangenehm kollidieren, wenn man mit Freunden hingeht: “Also wir gehen immer hier lang.” “Da?!”

Die Elefanten stehen und mampfen, der Wärter steht daneben und guckt versonnen in die Gegend. Es ist derselbe Wärter, der schon seit Jahren genauso da steht, jeden Tag. Ab und zu kratzt er sich mit seinem Stock am Rücken, ab und zu kickt er mit der Schuhspitze einen Stein weg, ansonsten steht er und guckt. Den ganzen Tag. Er ist nur im Sommer da, wissen meine Kinder zu meiner Überraschung. Nanu, sage ich, wieso das denn? Na, ob ich ihn denn nicht erkannt hätte? Ich sehe ihn mir genauer an, immerhin steht er da, wo sowieso alle hinstarren, das fällt nicht weiter auf. Eine etwas gedrungene Gestalt, ein sehr voller Vollbart. Freundliche Augen. Ich habe den leisen Verdacht, dass er auch in meiner Kindheit schon da gestanden hat, obwohl das kaum sein kann, aber irgendwie kommt er mir auch bekannt vor. “Der ist im Winter am Nordpol”, klärt mich ein Sohn auf, “das ist doch der Wichtel!” Tatsächlich hat der Mann große Ähnlichkeit mit einem  Weihnachtswichtel in einem unserer Kinderbücher, es ist wirklich verblüffend. Das ist natürlich schön, dass er hier im Sommer Elefanten hütet und man ihn sich einmal in Ruhe ansehen kann. Finden die Kinder. Ich denke, dass man längst darüber hinaus ist, in Tierparks Menschen auszustellen, aber freiwillige Ausnahmen bei solchen Saisonarbeitskräften wohl in Ordnung sind. Oder nicht? Es ist kompliziert.


Foto: Götz Berlik

Der Elefantenwärter zwinkert, vielleicht merkt er, wenn er von Kindern enttarnt wird. Wir gehen weiter, ohne es zu erfahren. Es ist ein heißer Tag, wir gehen zu den Orang-Utans. Da ist es besonders heiß, daher sind nicht viele Menschen drin, man kann sich die Affen in Ruhe ansehen. Affen, die man gar nicht Affen nennen mag, sondern eher Waldmenschen, wie sie wohl in ihrer Heimat genannt werden. Affen, deren Blick man nicht aushält. Die Kinder grübeln über die Familienstrukturen der Affengruppe, über spielende Geschwister, genervte Mütter und den prächtigen Papa. “Woran erkennt man denn, dass das der Papa ist?” “Das ist der Größte und Stärkste, das ist der Chef.” “Und bei uns?” Die Herzdame zeigt wortlos auf meinen Bauch, ich finde, man könnte jetzt weitergehen.

Wir landen beim Streichelgehege mit den Ziegen, das durch zwei Türen gesichert ist. Man kann durch die Türen hineingehen, wie durch eine Schleuse. So lange man die Türen nicht aufhält, kommen die Ziegen nicht heraus. Das stellt mein kleiner Sohn fest, der lachend eine Tür aufhält und sich über die andrängenden Ziegen freut, die jetzt in der Schleuse stehen, deren anderes Ende schon die nächsten Kinder öffnen. Ich setze zum Spurt an. Die folgende halbe Stunde verbringe ich mit einem völlig absurden Ziegengeduldsspiel. Denn immer, wenn ich eine Ziege zurück ins Gehege schiebe, ist die nächste schon wieder draußen. Kinder öffnen stets die falschen Türen oder locken an den falschen Enden mit Futter. Ziegenschieben ist übrigens in etwa so einfach wie Betonpollerschieben, es ist wirklich verblüffend, zu welchem Widerstand so kleine Tiere fähig sind. Erst als mir drei andere Erwachsene helfen, sind die Ziegen wieder alle sicher verstaut. Glaube ich jedenfalls, ich zähle nicht nach und mache mich lieber mitsamt den Kindern schnell davon.


Foto: Götz Berlik

Ziegenschieben macht warm, als Sport wird das vollkommen unterschätzt. Also gehen wir dahin, wo es alle Besucher an diesem Tag hinzieht, in die neue Eismeeranlage. Die ist riesig, das sieht man ihr von außen gar nicht an. In dem Bau kann man locker mehr als eine Stunden verbringen und jede Hitzewelle komplett vergessen. Man kann richtig frieren und klappernd wieder ins Freie gehen, eine interessante Erfahrung, wenn man dann sofort wieder geröstet wird. Aber erst einmal steht man lange vor der Anlage und sieht dem Walross zu. Oder sind es mehrere? Auch egal, da kreist jedenfalls ein riesiges, dickes Tier in kühlem Wasser, sehr elegant kreist es da. Es sieht vergnügt aus. Das kann man nicht von allen Tieren im Zoo behaupten, schon gar nicht bei Hitze, aber das hier, das scheint selbstzufrieden zu grinsen. Man bekommt schnell Wahnvorstellungen von blaufunkelnden Swimming-Pools, wenn man dem Tier so zusieht, wie es in schönen Kurven durch das gigantische Becken gleitet, man spürt das Wasser geradezu um sich. Auch wenn man vielleicht lieber nicht neben einem Walross schwimmen möchte.
Dann geht man in die Eismeeranlage hinein, vorbei am Eisbären, der nicht nur das gefährlichste Raubtier der Erde ist, sondern auch genauso aussieht. Man besucht die Pinguine, mit leichtem Frösteln sieht man ihnen zu, wie sie grazil schwimmen oder betont würdevoll in der Gegend herumstehen. Die Luft riecht nach Fisch und Wasser und Winter, hier drin ist wirklich das nördliche Norwegen, während draußen der Wind aus der Sahara weht. Wenn man wieder in Freie kommt, was verblüffend lange dauert, geht man aber nicht weiter, sondern steht unwillkürlich wieder beim Walross und sieht dem gleitenden Riesen zu. Ab und zu taucht er auf, sieht einen kurz an, taucht ganz langsam wieder ab, prustet und sieht blinzelnd in den glühenden Himmel. Macht eine Rolle, kommt hoch und wirft noch einen Blick auf die schwitzenden Menschen dahinten, bevor es sich wieder nach hinten fallen lässt, das kalte Wasser schlägt spritzend über ihm zusammen. Es taucht etwas später an ganz unvermuteter Stelle wieder auf, wie ging das jetzt? So schnell kann man schwimmen? Ein paar Tropfen Wasser fliegen heran, sie verdampfen sofort auf der Haut der erhitzten Menschen, die in der Sonne braten und dem Geplansche im kühlen Wasser zusehen.


Foto: Götz Berlik

Wenn es jetzt ein paar Meter weiter einen Swimming-Pool für Menschen gäbe, man könnte jeden Eintrittspreis dafür nehmen, er wäre dennoch voll und Hagenbeck wahrscheinlich auf Jahre hinaus saniert. Manchmal hat man an heißen Tagen die besten Ideen, das ist doch im Grunde ganz einfach, hier zu Geld zu kommen. Der Pool wäre voll mit begeisterten Menschen, die sich prustend hineinfallen lassen würden, mit einem geradezu irren Glücksgefühl, wenn das Wasser über ihnen kühl zusammenschlägt. Menschen auf seligem Tauchgang im klaren Wasser, metertief unter der stechenden Sonne. Es wären auch Männer wie ich in diesem Pool, Männer mit etwas Bauch also, die plötzlich ungeahnt elegante Kurven schwimmen würden und mit einem abgrundtiefen Seufzer des Wohlgefühls auftauchen würden, Tropfen im Bart und Glück in den Augen, es wäre genau wie nebenan beim Walross – ein wunderschöner Anblick für alle Besucher.

Glaube ich.

Die Eismeeranlage bei Hagenbeck ist an heißen Tagen wirklich sehr zu empfehlen, wollte ich jedenfalls sagen.  Wer sie noch nicht gesehen hat, sollte sie jetzt besuchen, man weiß die Anlage bei dem Wetter erst wirklich zu würdigen.

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