Es gibt Unternehmungen, die man als Hamburger gerne den Gästen der Stadt empfiehlt, zu denen man aber selbst gar nicht oft kommt. Das gilt etwa für Hagenbecks Tierpark, wo viele nur hingehen, wenn sie eigene Kinder oder Enkel oder dergleichen haben, das gilt aber auch für eine Hafenrundfahrt, die man nur macht, wenn die Verwandtschaft aus dem Binnenland da ist, und das wird sicher irgendwann auch für die Elbphilharmonie gelten, in die man später nicht zu den Konzerten gehen wird, sondern um sie dem Onkel aus Berlin zu zeigen.
Da ist es vielleicht ganz gut, wenn der Nachwuchs noch nicht alles kennt, aber alles kennen will, denn dann sieht man sich auch die Klassiker aus den Reiseführern wieder einmal an und frischt seine Kenntnisse auf, das macht einen nicht dümmer. Sohn I wird bald sieben und sieht Dinge allmählich in größeren Zusammenhängen, deswegen fragte er neulich, wie man denn eigentlich auf die andere Elbseite kommt, wenn man nicht über die Autobahnbrücke möchte und auch nicht Schiff fahren will. Kommt man da dann gar nicht hin? Man kann doch schlecht hinüberschwimmen? Oder kann man doch? Gibt es eigentlich nur die großen Hafenfähren oder auch Tretboote? Oder noch andere Brücken irgendwo? Für Fußgänger? Da sieht man doch dauernd Leute, da drüben, die müssen doch irgendwie alle da hinkommen. Dass Menschen auch südlich der Elbe wohnen können, ist bei ihm noch nicht dauerpräsent. Und so machten wir an einem Sonntagnachmittag den in Hamburg einzig möglichen Spaziergang, auf dem man in wenigen Minuten die Stadt verlässt: wir gingen durch den alten Elbtunnel. Ich weiß, dass man die Stadt dabei gar nicht wirklich verlässt, aber erstens fühlt es sich so an und zweitens muss man sich das eben aus der Perspektive eines Kindes vorstellen, das nur den Nordteil der Stadt kennt.
Man fährt also bis zu den Landungsbrücken und geht zum nördlichen Einstieg, und dort geht man natürlich die Treppen hinunter. Damit kann man Kinder nämlich gut beeindrucken, die Treppen sind hoch, es geht steil runter, man sieht die Tiefe unter sich und neben einem steigen und sinken die mächtigen Fahrkörbe für die Autos, das ist alles ziemlich guck mal! Guck doch mal, Autos im Fahrstuhl! Man betritt immerhin ein Industriedenkmal – und das heißt nicht nur so, das nehmen die Kinder auch wörtlich und denken mal. Sehen sich das ganz genau an, was hier passiert, überlegen auch schon, wie sie das im Sandkasten nachbauen können. Grübeln, warum eigentlich nicht alle Tunneleinfahrten Fahrstühle haben, wieso hier keine Brücke ist und so weiter, da ist richtig etwas los im Kopf, das sieht man dem Nachwuchs deutlich an.
Und dann hat man da unten den Tunnel vor sich, die glänzende, gekachelte und nach unten durchgebogene Röhre – und auch das wirkt wahre Wunder. Das räumliche Denken der Kinder ist nicht so trainiert wie das von Erwachsenen, die müssen sich konzentrieren, um den Blick über den Fluss, den sie eben noch oben hatten, mit dem Weg durch die Röhre hier in eine schlüssige Verbindung zu bringen. Wir kommen dann drüben raus? Echt? Es gibt Diskussionen, wie lang der Weg nun wirklich ist. Sieht gar nicht so lang aus, das hätte man nämlich doch schwimmen können! Fühlt sich in der Mitte dann aber doch recht lang an, es ist ganz seltsam. Und über uns ist also jetzt die Elbe? Also genau über uns, da? Und auch neben uns? Wenn hier jetzt Fenster wären, dann…? Oh.
Das ist ein wenig unheimlich, das gibt dieses wohlige Gruseln, das sich aushalten lässt, denn Papa wirkt so unbeeindruckt, es wird schon alles in Ordnung sein. Dennoch ist es sicher besser, man geht auf der Südseite schnell wieder ans Tageslicht.
Und dort geht man dann zum Aussichtspunkt direkt hinter dem Tunnelausstieg, von dem aus man einen grandiosen Blick über den Hafen hat, über die Landungsbrücken und die Hafenkante. Und wenn man ehrlich ist, dann möchte man genau diesen Blick gerne als Blick auf Hamburg beschreiben, obwohl hinter dem eigenen Rücken noch ziemlich viel Hamburg kommt und man also keineswegs auf ganz Hamburg sieht. Aber doch auf das Postkartenhamburg, auf das Bildbandhamburg, den Hochglanzhafen. Hinter einem liegt der unerforschte Süden, eine Gegend, die nach Arbeit und Industrie aussieht, nicht gerade einladend, das ist hier noch kein Disneyland für Touristen. Blohm & Voss, Gleise von Hafenbahnen, Betonmauern, Schuppenruinen, hier findet noch echte Arbeit statt. Hier stehen nicht nur Schreibtische in den Gebäuden. Hinter den Mauern bedienen Menschen noch echte Werkzeuge, da faseln noch keine Makler von Industrial Style und upcoming area. Gegenüber, auf der anderen Elbseite, da liegen Glanz und Gloria der Immobilienwirtschaft in der Sonne, da tanzen die Türme und springen die Euros, man sieht es auf den ersten Blick. Aber hier? Hier steht, und das ist wunderbar passend, ein Imbisswagen. So etwas sieht man in Hamburg gar nicht mehr so häufig, denn drüben, auf der anderen Seite, da ist die Gastronomie ja immer gleich eine Lounge, kein Anhänger mehr, aus dem einem Glühwein oder Kaffee über den Tresen gereicht werden. Oder Lollys für die Kinder, versteht sich. Aber es ist nett und erfrischend kommunikativ, sich da am Wagen anzustellen, da kommt man leicht ins Gespräch, das ist in dieser Stadt auch nicht gerade selbstverständlich.
Und mit einem Lolly kann man eine ganze Weile an der Mauer zur Elbe stehen, Schiffe gucken und Touristen beobachten. Und wenn man weltoffen und freundlich ist, kann man nahezu unentwegt den Bitten nachgeben, Reisegruppen vor dem Panorama der Hansestadt zu fotografieren. Oder vor einem Containerschiff. Oder vor der Elbphilharmonie. Zwischendurch aber unbedingt einmal aufs Wasser zeigen und den Kindern klarmachen, dass sie eben gerade da unten längs gelaufen sind, die Gesichtsausdrücke lohnen sich. Gehen wir da etwa auch zurück? Klar. Und können wir das öfter machen? Klar. Mit Lolly am Imbiss?
Auch das. Es ist ein wirklich günstiges Ausflugsvergnügen. Günstig und großartig, das fällt nicht immer so schön zusammen. Aber hier klappt das zuverlässig.