Kolumne von Maximilian Buddenbohm – Der kleine Störtebeker


Foto: Oliver Fantitsch

Es geht im folgenden Text um ein Theaterstück für Kinder. Aber lesen Sie bitte ruhig weiter, auch wenn Sie keine Kinder haben. Es geht auch um Therapietheater für gelangweilte Erwachsene.

Wie Klaus Störtebeker endete, das weiß in Hamburg jedes Kind. Man kennt den Schädel aus dem Museum, man kennt das Denkmal an der Hinrichtungsstätte am Grasbrook, man kennt auch die Geschichte vom geköpften Piratenkapitän, der noch ohne Kopf weiterlief, das ist hier Allgemeingut wie anderswo nur Grimms Märchen. Die Vorgeschichte von Klaus Störtebeker kannte man bisher aber nicht. Klaus war eben Klaus, ein starker Mann von Format und Ruhm. Das mit dem kleinen Waisenjungen Nikolaus, der an einen fahrenden Gaukler verkauft wurde, ganz alleine weglief, durch Hamburg irrte und schließlich mit Hilfe eines mutigen Mädchens auf einem Schiff landete, das wusste man noch nicht. Manche Geschichten müssen eben ziemlich lange warten, bis sie einen passenden Erzähler finden, manchmal dauert es ein wenig länger, bis alles ans Licht kommt. Und es ist eine sinnige Ergänzung der Störtebeker-Saga geworden, daher gilt für sie die alte Regel von James Krüss, die man nie oft genug zitieren kann: “Wenn eine Geschichte einen Sinn hat, dann ist sie wahr, auch wenn sie nicht wirklich passiert ist.”


Foto: Oliver Fantitsch

Jetzt ist die also ganz wahrheitsgemäß erzählte Vorgeschichte von Klaus Störtebeker auf der Bühne gelandet, in Schmidts Tivoli kann man sie sich bis nach Weihnachten ansehen – und das sollte man auch tun. Aus der Geschichte vom Waisenjungen Nikolaus, der nichts hat, nicht einmal einen Nachnamen, ist ein Musical geworden, eine musikalische Kaperfahrt. Der Text des Stückes ist von Heiko Wohlgemuth, die Musik ist von Martin Lingnau und die Regie von Carolin Spieß. Wer in Hamburg öfter ins Theater geht und vielleicht sogar Kinder hat, der kennt die Zusammenarbeit der drei schon vom Räuber Hotzenplotz und von “Es war einmal”, die in den letzten Jahren im Tivoli gelaufen sind und deren Lieder meine Söhne immer noch singen können, das sagt ja auch etwas aus.


Foto: Oliver Fantitsch

“Der kleine Störtebeker”, lassen Sie sich nicht von den Plakaten irritieren oder von den zahllosen Kindern im Publikum verwirren, das ist gar kein Theater für Kinder. Das ist vielmehr Theater für alle, da ist jeder ab etwa fünf Jahren richtig, der sich einmal wieder richtig und restlos für Theater begeistern möchte. Fernab aller Bildungshuberei, fernab aller intellektuellen Verkrampftheit – hier geht es um Spielspaß pur. Hier verwandelt eine, das muss man so deutlich sagen, saugute Truppe von wenigen Schauspielern eine fast leere Bühne mit wenigen Handgriffen und denkbar geringsten Mitteln in eine Straßenszene, in den Fischmarkt, in ein Piratenboot, in ein Haus. Aus wie wenig man alles machen kann, das hat man als normaler Erwachsener fast vergessen und es können einem fast die Tränen kommen bei der Erinnerung daran, dass ein Laken doch einmal auch für uns ganz wirklich ein Segel war, das endlose Meer, der Baldachin eines Himmelbetts, was auch immer. Damals in der Kindheit, da konnte man das doch alles auch noch verwandeln und verzaubern, da drehte man sich um und das Bett war ein Boot und niemand hat daran gezweifelt. Wie viel muss man heute investieren, um sich selbst noch etwas vorzumachen? Könnte das Fahrrad nicht wenigstens ab und zu wieder ein Pferd sein?


Foto: Oliver Fantitsch

Wie befreiend, einmal wieder zu sehen, wie  leicht das immer noch gehen kann. Da wirbeln Schauspieler über die Bühne, denen man sofort abnimmt, dass sie einen Heidenspaß haben und sie verwandeln die Bühne und den Raum. Nicht mit Kulissen, nicht mit Requisiten, nur mit ihrem Spiel. Da entstehen Welten vor einem, die man nicht sieht, und doch sind sie da. Eine Szene spielt in einem großen Haus und von dem Haus gibt es fast nichts, die Schauspieler sind selbst das Haus und wenn ein paar Schauspieler ein Haus spielen, dann ist das Haus da, das ist sowas von da, das Haus ist alternativlos, sagt die Phantasie. Man sieht sogar, wie groß es ist. Wie geht das bloß zu? Darüber haben meine Söhne nach der Vorführung das allererste Theaterfachgespräch ihres Lebens geführt, so wurde der Bildungsauftrag dann ganz nebenbei doch erfüllt. Wie die Kinder jetzt auch plattdeutsch singen können, das fiel ganz nebenbei an. Aber keine Sorge, es ist kein Mundartstück, die paar plattdeutschen Brocken gibt es sozusagen als norddeutschen Bonustrack.


Foto: Oliver Fantitsch

Und die Schauspieler deklamieren und singen, sie sprechen im Chor und fallen wieder aus ihm heraus, sie tanzen, sie kämpfen, sie toben, fechten und klettern übereinander, sie wechseln die Rollen, das Alter, das Geschlecht, sie werden von der Musik in Reigen getrieben und zur Ruhe gebracht, sie erwachen mit dem nächsten Takt wieder zum Leben und das Pathos der letzten Sekunde erlischt gleich wieder im nächsten Witz, den man sich aufschreiben möchte, um ihn später irgendwann mal als eigenen auszugeben. Eine Handvoll bemerkenswert wandlungsfähiger Requisiten, ein paar Kulissenstückchen, eher Trümmer, mehr nicht, überaus raffiniert angerichtet von Heiko de Boer. Nur das – und eine wilde Bande. Na gut, und eine Ratte. Doch, die ist schon auch wichtig. Und die Krankheit, deren Namen man nicht nennen darf.
Es reißt einen mit, man möchte, und ich sage das als gestandener Hanseat ohne die allergeringste Spielfreude, man möchte sich glatt einreihen und auch einmal wieder so dermaßen Spaß haben. Man sitzt und staunt und klatscht und ruft und singt und man möchte den Schauspielberuf für einen Moment vielleicht doch für den schönsten Job der Welt halten; das fällt einem ganz sicher nicht nach jedem Theaterbesuch ein. Und es gilt auch nur, bis man wieder sicher am Schreibtisch sitzt – aber doch, aber doch.


Foto: Oliver Fantitsch

Wir waren mit einem Fünfjährigen und einem Siebenjährigen da, das hat wunderbar geklappt. Wir haben sicher drei oder vier verschiedene Stücke gesehen, je nachdem, wer was gerade verstanden hat, aber das macht überhaupt nichts. Die Erwachsenen dachten insgeheim, dass sie das Stück wohl noch besser als die Kinder fanden, die Kinder dachten das aber genauso und als wir rausgingen, haben wir sofort beschlossen, das wir uns das Stück noch einmal ansehen. So ein Stück ist das.

Nehmen Sie sich ein Kind, leihen Sie sich ein Kind, gucken Sie sich das an. Wenn Sie kein Kind finden, gehen Sie ohne. Man vergisst so leicht, was für ein Spaß Theater sein kann. Und es ist so tröstlich, Spaß zu haben. Gehen Sie einfach ins Theater, wenn der November Sie erwischt – und wen würde er nicht irgendwann erwischen.

Die saustarke Bande auf der Bühne wird gespielt von: Matthias Beitien, Götz Fuhrmann, Torsten Hammann, Tim Koller, Stefan Leonard, Christian Petru, Timo Riegelsberger, Markus Richter, Mario Saccoccio, Kristina Willmaser, Benjamin Zobrys (auch Choreografie) , Elena Zvirbulis.

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