Es gibt wohl kein größeres Thema als das Leben selbst: als Gegenstand für ein Festival ist es so selbstverständlich wie unmöglich zugleich. Nichtsdestotrotz ist dies die erste Ausgabe der Lessingtage nach einer Zeit, in der sich das Zusammenleben grundlegend verändert hat. Obwohl Menschen auf unterschiedlichste Art und Weise von der Pandemie betroffen waren und sind, standen überall Vereinzelung und Endlichkeit noch mehr als sonst im Vordergrund. Dem will das Thalia Theater mit den Lessingtagen etwas entgegensetzen: „Celebration of Life“ soll dem jetzt so wichtigen Bedürfnis der Freude am Leben Ausdruck verleihen. Mit der Kunst das Leben feiern
„Celebration of Life“ wird im englischsprachigen Raum auch oft als Bezeichnung für eine Trauerfeier verwendet. In diesem Sinne gehen die Theatermacher auf die Fragilität des Lebens ein und zeigen Produktionen, in denen extreme Lebensentwürfe durchgespielt werden: In „Das Leben des Vernon Subutex 1“ lässt Regisseur Thomas Ostermeier seinen Protagonisten Joachim Meyerhoff die Abgründe einer von sozialer Auflösung geprägten Gesellschaft schmerzhaft erleben. Die schillernde dänische Künstlerin Madame Nielsen wiederum führt uns in „Die Welterlöserin“ unsere Widersprüche vor Augen, wenn es darum geht, die eigene Lebensweise zu hinterfragen: „Sie weiß, dass sie keine Lebensmittel kaufen soll, die mit Flugzeugen hierher transportiert werden müssen, aber, ach, Avocado soll ja sooo gesund sein, und gerade sie braucht ja gesundes Fett!“
Performance auf Top-Niveau
Das Verhältnis von Leben und Umwelt thematisiert auch die vielfach preisgekrönte Aufführung des belgischen Performance-Kollektivs Ontroerend Goed – sie bebildern die Umkehrbarkeit der Dinge nach dem Point of No Return inhaltlich und formal: „Are we not drawn onward to new erA“ (unbedingt rückwärts lesen!). Oder es geht um den radikalen Wunsch, die Lebensform gleich komplett zu ändern: Ein Schaf möchte ein Mensch werden und erleidet in „The Sheep Song“ des flämischen Kollektivs FC Bergman in berührend poetischer Bildsprache alle Ohnmachtserfahrungen, die auch die menschliche Existenz durchziehen. Die Endlichkeit des Lebens und was danach kommt, ist das Thema der „Langen Nacht der Weltreligionen“, die fragt: „Unsterblichkeit: Traum oder Albtraum?“.
Am Ende der Lessingtage im Thalia Theater steht das hoffnungsvolle „Have a good day!“, der tausendfach formulierten Verabschiedung der Kassiererinnen, die noch vor einigen Monaten als systemrelevant beklatscht wurden. Die Banalität dieser Floskel, Titel der litauischen Musikperformance, wird zur Verdichtung eines der Gefühle, die bleiben, im – hoffentlich – letzten Aufbäumen der Pandemie. Die Auswirkungen dieser jüngsten Katastrophe, die im Angesicht von Klimawandel und anderen Herausforderungen nur eine weitere unter vielen ist, werden uns noch lange begleiten.