Es gibt zwei Spaziergänge, die vermutlich sowohl jeder Hamburger Bürger als auch fast jeder Besucher der Stadt absolviert. Man geht ganz selbstverständlich an die Elbe, man geht ebenso selbstverständlich um die Alster. Also um die Außenalster, genau genommen. Über die Elbe habe ich hier bereits geschrieben, wenden wir uns also jetzt der Alster zu.
Hamburger Bürger absolvieren diese Runde im Laufe des Lebens auf verschiedene Arten, da kommt etwas zusammen. Man wird zuerst im Kinderwagen herumgeschoben, davon bekommt man noch nicht sehr viel mit. Irgendwann fährt man zum ersten Mal mit einem Kinderfahrrad die ganze Runde, später erst geht man sie komplett zu Fuß. Das ist für ein Kind schon ziemlich weit und noch ein sportliches Ereignis. Als Teenager umrundet man den aufgestauten Fluss dann auf Inlineskates oder auf anderen seltsamen Funsportgeräten. Dann geht man irgendwann als Erwachsener souverän und spazierend herum, zwingt sich irgendwann joggend ums Gewässer und endet schließlich am Rollator, langsam von Bank zu Bank schlurfend. Das sind die sieben Arten, um die Alster zu kommen. Womöglich gibt es noch mehr Runden mit Gott weiß welchen Arten der Fortbewegung, aber man kann diese sicher als Klassiker betrachten. Mein vierjähriger Sohn ist gerade erst bei der zweiten Variante angekommen, mit vier Jahren ist man allmählich alt genug, die Runde von etwa sieben Kilometern auf einem Kinderrad zu schaffen. Jedenfalls wenn man sich und dem Kind genug Zeit lässt, versteht sich, und wenn die Strecke möglichst frei ist, der Sohn bremst nicht gern.
Das ist dann natürlich ein Ereignis, so eine erste Alsterrunde, und das sollte man auch gebührend würdigen und feiern. Das ist nicht irgendeine Nachmittagsspazierfahrt, das ist eine gewaltige Prüfung. Das sieht nämlich richtig, richtig weit aus, wenn man ein Kind ist und da Meter um Meter wild vor sich hinstrampelt, mit einem Fahrrad ohne Gangschaltung und fragwürdiger Übersetzung. Und wenn man etwa nach der Hälfte auf die geschaffte Wegstrecke zurückblickt oder auf den Startpunkt am anderen Ufer ganz da hinten in der Ferne sieht, dann ist das schon beeindruckend. Da sind wir losgefahren, da waren wir eben? Das kann man schaffen? Wirklich? Das Kind sieht hin und her, fährt ein Stück, hält an und sieht wieder zurück. „Wie weit ist es noch?“ Na, das sieht er ja selbst. Oder nicht? „Bis da ganz hinten!?“ Leichte Panik im Blick, die Unterlippe rückt bedrohlich weit nach vorne. Da muss der Vater den inneren Sporttrainer bemühen oder sich, wenn der gerade nicht auffindbar ist oder gar noch nie verfügbar war, an entsprechende Filmszenen aus amerikanischen College-Filmen erinnern und etwas von „das schaffst du“ und „jeder hat mal angefangen“ und „zusammen schaffen wir das“ murmeln, da muss man Schultern klopfen, ein wenig anschieben und gute Laune in großen Mengen verbreiten. Vielleicht muss man aber auch nur ein ziemlich üppiges Eis am Ende der Runde in Aussicht stellen, es kommt auf das Kind an.
Währenddessen geht der Blick unwillkürlich weit über die Alster, immer wieder guckt man in die Ferne, wenn man da am Ufer steht, das gilt bei jedem Wetter und in jeder Jahreszeit. Es ist, da kann man nichts anderes sagen, immer wieder ein umwerfender, wunderschöner Anblick, der erhebliche Mitschuld daran trägt, dass hier alle immer von der schönsten Stadt der Welt reden. Das sieht phantastisch aus, da geht das Herz auf und man zeigt es natürlich auch dem Kind, wie schön die Mitte der Stadt in Hamburg ist, wie funkelnd die Alster da eine verschwenderisch große Freifläche schafft, wo andere Städte nur Verdichtung bieten können. Der Arm weist weit über Harvestehude oder Winterhude und man murmelt „Eines Tages wird das alles dir gehören“ – aber nur so, dass der Sohn es nicht hört, man soll ja nicht lügen. Und die Augen des Kindes folgen dem Arm des Vaters, es guckt, wohin der Vater guckt. Sinnend sieht es auf das andere Ufer, auf die gemäldeartige Aussicht, das einmalige Panorama, das es so in keiner zweiten deutschen Stadt gibt. Das Kind denkt nach, es lässt das grandiose Bild einsinken, ganz still steht es am Ufer, dann sagt es schließlich leise: „Das ist aber blöd weit.“
Man sollte sich lieber keine Illusionen machen, dass ein Kind die Schönheit der Alster würdigt. Die Alster liegt da quasi als Sportgerät in der Mitte der Stadt, als Parcours und Abenteuerpfad, der dekorative Aspekt ist dem Nachwuchs völlig schnurz. Da kann man noch so oft auf die Bäume am Ufer zeigen, den Sonnenuntergang, die Schwäne und die vorbeifahrende weiße Flotte, alles egal. Die Alster steht im Kindesalter nur für eine Strecke, die man nicht schaffen kann, die man doch schaffen kann, vielleicht schaffen kann, mit viel Mühe schaffen kann, die man – GESCHAFFT HAT! „Papa, Papa, wir sind rum! Wir sind ganz rum! Ich bin ganz rum! Ich bin um die Alster! Um die ganze Alster!“ Und dann hat man ein sehr glückliches, sehr stolzes Kind, das nach einem althergebrachten Hamburger Initiationsritual gerade ein ganzes Stück älter geworden ist.
Und ein paar Jahre später setzt man an einem schönen Sonntagmorgen dann einen längeren Spaziergang aufs Programm.